In der vorigen
Folge der Winterschule
"Mediendemokratie" hatten wir die demokratische
Teilhabe vom Standpunkt eines Individuums aus betrachtet und
waren von dessen unbestreitbaren quantitativen und
qualitativen Beschränkungen ausgegangen. In dieser Folge
verschieben wir den Betrachtungsstandpunkt weg vom "mündigen
Bürger" und hin zu den Akteuren in den Medien und in der
Politik.
Der Begriff "Mediokratie" im Titel stammt von dem
Politikwissenschaftler Thomas Meyer. Er soll ausdrücken, daß die medialen und
politischen Systeme untrennbar verwoben sind. Ein zentraler
Aspekt hierbei
ist die Beobachtung, daß Politiker die Massenmedien
benötigen, um ihre politischen Konzepte dem Publikum
unterbreiten und rechtfertigen zu können und sich dabei den
Funktionslogiken der Massenmedien unterwerfen
müssen(1). Mit dem Aufkommen vom Fernsehen als mit Abstand
reichweitenstärkstem Massenmedium wurde dessen
Funktionslogik zur harten Vorgabe für erfolgreiche Politik.
Dies hatte einen enormen Einfluß darauf, was unter
demokratischen Debatten, öffentlicher Meinung oder sogar
Demokratie schlechthin verstanden wird.
Visuelle Medien haben generell, egal ob privatwirtschaftlich
oder öffentlich finanziert, eine vollkommen andere
Funktionslogik als politische Debatten und die klassischen
diskursiven Prozesse der Bildung einer öffentlichen Meinung,
z.B. innerhalb oder zwischen Parteien.
Die idealtypischen demokratischen Debatten unterstellen
einen längeren Zeitraum, in dem Konzepte und Argumente von
vielen Debattenteilnehmern vorgebracht und von
Meinungsgegnern gründlich überprüft werden können,
überwiegend auf Basis von Texten. Ziel ist, nach einigen
Iterationen einen Kompromiß zu finden, den alle mittragen
können. Hierbei werden idealerweise Widerstände graduell
abgebaut und Meinungen geändert. Visuelle Medien verlangen
stattdessen im Stunden- oder Tagestakt nach Neuigkeiten und
Sensationen, ideal sind harte Konflikte und Bilder. Die
äußere Erscheinung, das Auftreten und die Schauspielkunst
von Politikern gewinnen enorm an Bedeutung
("Theatralisierung von Politik") und werden wichtiger als
politische Programme.
Der Übergang von einer Zeitschriften- und Buchkultur zu
einer Fernsehkultur in den 1960er Jahren führte daher zu
tektonischen Verschiebungen in der Art und Weise, wie
Politik betrieben wird und wie Demokratie funktioniert(2).
Reporter und Kommentatoren in reichweitenstarken Medien,
namentlich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, werden zu
Schiedsrichtern über Personen und Programme oder selber zu
politischen Aktivisten. Weil sie die Karriere von Politikern
bremsen oder befördern können, gewinnen sie eine
demokratisch nicht legitimierte Macht über das politische
Personal (zusätzlich zu ihrem Einfluß auf die Meinung des
breiten Publikums in Sachthemen).
Besonders deutlich wird die Theatralisierung von Politik und
die Machtverschiebung hin zu den Inhabern medialer
Machtpositionen bei den Polit-Talkshows (von Anne Will,
Maybrit Illner usw.).
Schon 2003 vertrat der legendäre Frank Schirrmacher die
These, die Talkshows
"bestimmten die politische Agenda in Deutschland
mittlerweile mehr als der deutsche Bundestag" und die
weiblichen Gastgeber der Shows seien "die einflußreichsten
politischen Vermittlungsinstanzen des Fernsehens". Die
mediale Macht dieser Frauen dürfte entscheidend zum
Siegeszug der feministischen Ideologie beigetragen haben.
Wie knallhart hier indoktriniert wird, ist aktuell gut
erkennbar bei Anne Will, die die Gender-Sprechpause als
Symbol der Unterwerfung unter die feministische Ideologie
durchsetzt, obwohl ca. 90% der Bevölkerung diese
Sprachreform bzw. Indoktrination ablehnen. Ein so
offensichtliches Agieren ist aber die Ausnahme. Viel
subtiler und nachhaltiger wird indoktriniert, indem man nur
Gäste mit passenden Meinungen einlädt, durch Setzen der
Themen die Aufmerksamkeit steuert ("Agenda
Setting") und die Diskussion durch Einspieler oder die
Gesprächsleitung in die "richtige" Richtung lenkt.
Materialien:
- [ca. 35 Minuten Lesezeit] Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer stellt in Meyer (2002) die unterschiedlichen Zeitskalen in klassischen demokratischen Prozessen bzw. medialen Systemen anschaulich dar. Gravierende, auf den ersten Blick nicht erkennbare Konsequenzen sind der Machtgewinn des medial im Mittelpunkt stehenden Spitzenpersonals der Parteien und der Bedeutungsverlust von Parteien und von vergleichbaren sozialen Strukturen, die wesentlich für die breite Konsensfindung und Akzeptanz politischer Entscheidungen sind.
- [30 Minuten Lesezeit] Meyer (2004) vertieft die schon erwähnte "Theatralisierung von Politik". Dass Politik inszeniert wird, ist grundsätzlich nichts Neues und normal. Es kommt allerdings auf die Dosis an. In einer Mediendemokratie bzw. einer Fernsehkultur steigen die Anforderungen an die Inszenierung politischer Inhalte quantitativ (hinsichtlich der Häufigkeit) und qualitativ drastisch an. Politischer Wettbewerb verlagert sich von den Sachthemen hin zur Optimierung der Selbstdarstellungen und medialen Inszenierungen. Politiker müssen regelrecht Schauspielunterricht nehmen, um ihre Gestik, Haltung, Stimme usw. zu optimieren, und über Erfolg von Politik entscheiden wesentlich die schauspielerischen Leistungen. Politische Aktivität wird gelenkt in Richtung Event-Politik (Scheinereignisse), Image-Pflege und Scheinhandlungen.
- [ca. 30 Minuten Lesezeit] Polit-Talkshows, speziell solche auf guten Sendeplätzen, stellen für das breite Publikum seit langem die wichtigste, vielleicht sogar einzige Möglichkeit dar, zumindest passiv an politischen Debatten teilzunehmen. Gaebler (2011) präsentiert eine sehr gründliche Analyse der Polit-Talkshows(3). Die 154 Seiten der Studie muß man nicht komplett lesen. Unbedingt lesen sollte man das Vorwort auf S. 1-2, das eher eine Zusammenfassung der Studie ist, das Kapitel "Einführung" (S. 5-11), das einen sehr guten Einblick gibt, wie die Polit-Talkshows inszeniert werden und welche heimliche Agenda als zweite Ebene der politischen Debatte, die an der TV-Oberfläche nicht erscheint dabei eine Rolle spielt, und die Handlungsempfehlungen S.117-118 (die scheinbar niemand befolgt hat). Bei Lust auf mehr empfehle ich Kapitel 7, S. 105-109. "'Wir brauchen die Fraktionsvorsitzenden' - Talkshow als Ersatzparlament?". Wirkliche politische Auseinandersetzungen finden eigentlich nur im Parlament statt. Talkshows sind i.d.R. nur simulierte politische Auseinandersetzungen, weil sie letztlich Unterhaltung sind. Es geht in diesem Text auch um die prinzipielle Frage, welche Arten von Debatten und Verhandlungen für ein breiteres Publikum und dessen Information und Meinungsbildung geeignet sind und inwieweit die Komplexität politischer Debatten durch Personalisierung, also Vertrauen in prominente Akteure, reduziert wird.
- [ca. 10 Minuten Lesezeit] Von Polit-Talkshows zu unterscheiden sind Politikmagazine wie Monitor, Report oder Frontal 21. Gegenüber Polit-Talkshows haben die Politikmagazine seit langem deutlich an Bedeutung verloren. Gäbler (2015) stellt die wichtigsten Magazine vor und untersucht die Ursachen für deren Bedeutungsverlust. Lesenswert ist hier vor allem das Kapitel 5. Resümee: "Wie politisch sind die Politikmagazine?", S. 91-96. Trotz des eher beklagenswerten Zustands der Politikmagazine kann es durchaus lohnen, sich gezielt einzelne Folgen bzw. einzelne Beiträge daraus anzusehen. Von Polit-Talkshows kann hingegen grundsätzlich abgeraten werden, sofern man politisch interessiert ist und sich einigermaßen ausgewogen informieren will: man bekommt woanders mit weniger Zeitaufwand bessere Informationen, nicht zu reden davon, daß man besser selber bewußt entscheidet, welche Themen einem wichtig sind und aus welchen Quellen man sich informiert.
Quellen
- Bernd Gäbler: "... und unseren täglichen Talk gib uns heute!" - Inszenierungsstrategien, redaktionelle Dramaturgien und Rolle der TV-Polit-Talkshows. Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitsheft 68, ISSN 1863-6934, 08.2011. https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_dat ... _15.pdf
- Bernd Gäbler: "... den Mächtigen unbequem sein" - Anspruch und Wirklichkeit der TV-Politikmagazine. Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitsheft 81, ISSN 1863-6934, 06.2015. https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_dat ... _03.pdf
- Thomas Meyer: Mediokratie - Auf dem Weg in eine andere Demokratie? Aus Politik und Zeitgeschichte 15-16/2002, BPB, 22.05.2002. https://www.bpb.de/apuz/26977/mediokratie-auf-dem-weg-i ... e?p=all
- Thomas Meyer: Die Theatralität der Politik in der Mediendemokratie. Aus Politik und Zeitgeschichte 53/2003, S.12-19 BPB, 05.01.2004. https://www.bpb.de/apuz/27196/die-theatralitaet-der-pol ... e?p=all
- Frank Schirrmacher: Männerdämmerung. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.07.2003, Nr. 149, S. 33, 01.07.2003. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/machtfragen-maen ... =true"
Anmerkungen
(1) Zumindest in einem großen Flächenstaat, in den historischen griechischen Demokratien mit kleiner, lokal erreichbarer Bevölkerung galt das nicht.
(2) Das Internet als neues Medium führte in den 2000er Jahren zu weiteren Verschiebungen, die wir erst später behandeln werden.
(3) Analysiert wurden Polit-Talkshows im Frühjahr 2011. Obwohl dies fast 10 Jahre zurückliegt, trifft die Analyse abgesehen vom Austausch einiger Namen und Modethemen auch heute noch voll zu.