Mittwoch, 30. Dezember 2020

Winterschule "Mediendemokratie", Folge 2: Die sekundär erfahrene Wirklichkeit und die Macht der Bilder


Im Mittelpunkt dieser Folge der Winterschule "Mediendemokratie" stehen Walter Lippmann (23.9.1889 - 14.12.1974) und sein wichtigstes Buch "Public opinion" ("Die öffentliche Meinung"), das 1922 publiziert und zu einem extrem einflußreichen Klassiker wurde. Lippmann analysiert darin die Bedingungen, wie private politische Meinungen und damit auch die öffentliche Meinung entstehen und wie diese mit medialer Propaganda manipuliert werden können. Er beschreibt, wie Menschen durch imaginative Bilder (heute würde man ggf. eher von Narrativen sprechen) beeinflusst und gesteuert werden können.

Grundlegend ist Lippmanns Beobachtung, daß die meisten Fakten, die für die politische Meinungsbildung einer Person relevant sind, nicht auf eigenen, persönlichen Erfahrungen beruhen, sondern zwangsläufig aus einer "sekundär erfahrenen Wirklichkeit" stammen, die er als Pseudoumwelt bezeichnet. Diese entsteht i.w. durch mediale Berichterstattung, ist also sehr anfällig für Verfälschungen. Sie führt zugleich zu einer politischen Passivierung, da der Medienkonsument keinen direkten Kontakt mehr mit den Objekten der Berichtstattung hat, z.B. Opfern von Naturkatastrophen.

Dies führt zu sehr grundsätzlichen Fragen, wie Demokratie überhaupt funktionieren kann und ob nicht das Konzept des mündigen Bürgers ein unerreichbares Ideal ist. Weil der einzelne Bürger von der Komplexität der wichtigen Sachfragen heillos überfordert ist, plädiert Lippmann dafür, die wirklichen Entscheidungen Experten, die im Hintergrund agieren, zu überlassen. Die Medien bekommen die Aufgabe, diese Entscheidungen als "öffentliche Meinung" zu verbreiten.

Besonders erschreckend dabei ist, daß die Kenntnis dieser Beeinflussung - die unterschwellig meistens vorhanden ist - nicht vor ihr schützt. Wenn man konsequent wäre, dürfte man eigentlich nichts mehr glauben, was einem die Medien als (sekundär zu erfahrende) Wirklichkeit servieren. Dann wäre man aber praktisch allen Themen unfähig, an den Debatten teilzunehmen, man wäre ein diskursiver Einsiedler. Diese soziale Selbstisolierung und die Selbstdarstellung als politisch inkompetent wird man unterbewußt scharf ablehnen. Die kognitive Dissonanz wird dazu führen, das Wissen von der Beeinflussung zu verdrängen.

Materialien:

  1. [ca. 45 Minuten Lesezeit] Der Essay von Graupe und Ötsch stellt die Kerngedanken von Lippmanns "Die öffentliche Meinung" ausführlich und sehr gut nachvollziehbar dar. Die Autoren beklagen zu Recht das viel zu geringe Bewußtsein der Öffentlichkeit, wie sehr sie medial beeinflußt wird, und den fehlenden Willen, Einfluß auf diese Beeinflussung zu nehmen und sie aktiv zu gestalten.

    Eine kompaktere, aber dennoch sehr gute Zusammenfassung von Lippmanns "Die öffentliche Meinung" bietet Schreyer (2018) (~11 Minuten Lesezeit).

    Aufgabe: Denken Sie darüber nach, bei welchen Themen Sie selber in einer Pseudoumwelt leben, also welche Ihrer Grundüberzeugungen auf Informationen aus dritter Hand beruhen, bei welchen Themen Sie glauben, daß Sie es sofort bemerken würden, wenn Nachrichten falsch oder unausgewogen sind, und was Sie selber gegen die Apathie der Öffentlichkeit tun können.

  2. [44 Minuten Video] Lippmann postuliert ein grundsätzlich negatives Bild von der Mündigkeit und Politikfähigkeit normaler Menschen. Dabei macht er allerdings einige Annahmen, die (für einen Demokraten) moralisch fragwürdig sind, ferner sind sie empirisch widerlegt. Mausfeld (2018) vergleicht hierzu das Mündigkeits- und Demokratieverständnis von Lippmann und dem John Dewey, einem zum Pragmatismus gehörigen Philosophen. Dewey kontert Lippmanns Argument, das gemeine Volk sei politikunfähig, mit dem Hinweis, dieser Vorwurf sei gegenstandslos, solange wesentliche Informationen nur den Eliten zugänglich sind und der Öffentlichkeit vorenthalten werden. Die Überforderung des Einzelnen sei ebenfalls der falsche Blickwinkel, denn die Öffentlichkeit arbeite arbeitsteilig und sei als Kollektiv genauso oder sogar besser politikfähig als die Eliten. Entscheidende Voraussetzung hierfür sei ein unbeschädigter Debattenraum und der Zugang zu allen relevanten Informationen.

    Aufgabe: Denken Sie darüber nach, ob es im Zeitalter der hochgerüsteten Lobby-Gruppen so etwas wie einen unbeschädigter Debattenraum geben kann und was ggf. zu tun ist, um ihn zu schützen.

  3. [12 Minuten Lesezeit] Wer immer noch nicht genug hat, kann noch ein interessantes Interview mit Walter Ötsch lesen. Ötsch hat zusammen mit Silja Graupe eine deutsche Übersetzung von "Public opinion", ergänzt durch ein ausführliches Vorwort, vorgelegt.

Quellen