Wenn demnächst politische Jahresrückblicke geschrieben
werden, hat Thema Cancel Culture oder allgemeiner
Meinungsfreiheit gute Chancen, erwähnt zu werden. Es brodelt
schon länger, der offene Brief im Harper's Magazine
war ein weltweiter Paukenschlag, das IDW Europe
gründete sich, Herr Kubicki schrieb ein Buch über Meinungsunfreiheit und in
etlichen Diskussionsrunden unterhielten sich Mitglieder der
medialen bzw. politischen Elite, die unter sich ausmachen,
was gerade "die öffentliche Meinung" ist, darüber, warum
mediale Habenichtse wie ich z.B. den Eindruck haben, keine
Stimme zu haben und die eigene Meinung gecancelt zu sehen.
So auch vor einigen Tagen auf Phoenix eine Runde von 5 Prominenten.
Kurz davor hatten zwei aus dieser Runde (Kubicki und
Flaßpöhler) auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für
die Freiheit (FNS) schon einmal über das gleiche Thema diskutiert, warum
auch nicht. Es moderierte Gunnar Kaiser, Mitinitiator des
IDW-Europe und Kritiker der Corona-Maßnahmen; dieser wurde
von einem anonymen Twitterer bei der FNS deswegen als
"rechts" angeschwärzt, worauf die FNS sich innerhalb weniger
Stunden entsetzt von Kaiser distanzierte und jede künftige
Kooperation cancelte. Findet hier gerade ein soziales
Experiment mit dem breiten Publikum statt? Gibt es den
Darwin Award eigentlich auch für politische Institutionen?
Sensibel ist das neue woke
Die liberale Cancel-Kultur der FNS erschien einigen recht
unsensibel. Sie verblüfft vor allem insofern, als Flaßpöhler
in der FNS-Debatte Sensibilität als zentralen Aspekt
der Meinungsfreiheit und als Rezept, wie man dem verhärteten
Debattenklima entgegenwirken kann, ins Gespräch brachte.
Genauso argumentierte sie auch in der Phoenix-Diskussion,
und Ende 2019 war es Schwerpunktthema einer Ausgabe ihres
Philosophie Magazins. In dieser Ausgabe preist der Soziologe
Andreas Reckwitz den zivilisatorischen Fortschritt, den die
zunehmende Sensibilität gebracht hat, warnt aber zugleich
vor Übertreibungen und läßt den Leser am Ende ratlos zurück,
was denn nun das richtige Maß sei. Sucht man nach Gründen
für diese Ratlosigkeit, fällt einem auf, daß Flaßpöhler,
Reckwitz und andere Befürworter von mehr Sensibilität zwei
gegensätzliche Bedeutungen des Begriffs sensibel nicht klar
unterscheiden:
- empfindlich, mimosenhaft, Ansprüche an das Verhalten anderer stellend, bis zur Extremform "Schneeflocke"
- empathisch, für andere mitdenkend, Rücksicht nehmend, keine Ansprüche stellend, sondern Ansprüche anderer erfüllend (freiwillig oder unfreiwillig)
Unwort das Jahres: vulnerabel
Vulnerabel ist der Modebegriff schlechthin in den Debatten
um die Debattenkultur geworden, anzuwenden auf Mitglieder
"marginalisierter" Gruppen, die besonders schonend zu
behandeln sind oder die Veto-Rechte in den Debatten haben
sollen. Der Duden listet als Synonyme: verwundbar, [hoch] empfindlich,
[leicht] verletzbar, verletzlich. Also ziemlich genau
sensibel, Variante (a), leicht gesteigert.
Verwundbar ist aber praktisch jeder, wie man in den
feministischen bzw. transaktivistischen Shitstorms gelernt
hat. D.h. der Begriff ist wörtlich genommen und ohne nähere
Bestimmung unbrauchbar für die Unterscheidung bestimmter
Klassen von Debattenteilnehmern. Sinn bekommt er erst
dadurch, daß er einer identitären Gruppe in den
meinungsbildenden Medien zugeschrieben wird. Man muß
sozusagen als schützenswerte Spezies bei der medialen Elite
akkreditiert werden, um den Status "vulnerabel" zu
erhalten.
Die Verwendung von "vulnerabel" hat aus Sicht seiner
Benutzer den Vorteil, daß man nicht so oft "marginalisiert"
sagen muß. Es ist aber die gleiche Täuschung.
Kann das weg? Ja.
Erinnerungen an die Privilegientheorie
Die Älteren unter uns erinnern sich eventuell an die
Debatten vor etwa 6 - 7 Jahren im Gefolge der
Aufschrei-Kampagne. Damals stand das Privileg, Mann zu sein
("male privilege"), unter heftigem Beschuß, verbunden
mit der ultimativen Aufforderung, es umgehend aufzugeben.
Diese Argumentationsstruktur wurde auch als feministische
Privilegientheorie bezeichnet. In ihr wird der
Begriff Privileg pervertiert, die Feststellung, wer ein
Privileg hat, ist völlig willkürlich und obliegt einem neuen
Adelsstand, und es werden auf höchst undemokratische Weise
Rechtsansprüche generiert. Nach und nach wurde das vielen
klar, vielleicht war das der Grund, warum die These vom
male privilege aus den Debatten verschwand.
Vielleicht auch, weil es männliche Transsexuelle gibt und
Transsexuelle neuerdings ganz oben in der
Opferstatushierarchie stehen.
Wenn man nun die Argumentationsstrukturen der
Privilegientheorie und der "neuen Sensibilität /
Vulnerabilität" vergleicht, dann - Überraschung - sind beide
in ihren Grundzügen gleich, weisen die gleichen Probleme und
Paradoxien auf und laufen auf undemokratische Strukturen
hinaus. Im Kern steht jeweils eine mediale bzw. politische
Elite (um nicht zu sagen ein neuer Adel), der bestimmt, wer
als besonders schutzwürdig anerkannt wird und wer sich
wegen seiner unverdienten "Privilegien" zurückhalten soll.
Damit wird nicht nur Ungleichheit unter den
Debattenteilnehmern geschaffen, zugleich werden auch auf der
Sachebene die Themen der Schutzwürdigen priorisiert. Die
Priorisierung von Themen ist aber eine zentrale
demokratische Aufgabe.
Quellen
- Intoleranz, offene Debattenkultur und Cancel Culture. Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, 03.12.2020. https://www.youtube.com/watch?v=hrrZ606TNKY
- Wolfgang Kubicki: Meinungsunfreiheit - Das gefährliche Spiel mit der Demokratie. Westend, 05.10.2020. https://www.westendverlag.de/buch/meinungsunfreiheit/
- die diskussion: Polarisiert und unversöhnt: Wie gespalten ist unsere Gesellschaft? Phoenix, 12.12.2020. https://www.youtube.com/watch?v=AESODYihHLc
- Andreas Reckwitz: Dialektik der Sensibilität. Philosophie Magazin Nr. 48 - Okt./Nov. 2019, 20.06.2019. https://www.philomag.de/artikel/dialektik-der-sensibilitaet
- Kolja Zydatiss: Ausgestoßener der Woche: Gunnar Kaiser. Achse des Guten, 18.12.2020. https://www.achgut.com/artikel/ausgestossener_der_woche_gunnar_kaiser