Samstag, 12. September 2020

Das Derailing der Cancel-Culture-Debatte


In letzter Zeit findet die Cancel Culture in unseren reichweitenstarken Medien erstaunlich viel Aufmerksamkeit. Der Begriff ist nicht neu, sondern seit Urzeiten gelebte Praxis in der Geschlechterdebatte, wo eine Seite wegen Toxizität in einem Cordon sanitaire isoliert und systematisch aus dem Diskurs herausgehalten wird. Ursache der medialen Aufmerksamkeit dürften der offene Brief im Harper's Magazine und der deutschsprachige Appell für freie Debattenräume sein. Naheliegenderweise ruft dies die Gruppen auf den Plan, die seit langem von der Cancel Culture profitieren bzw. sie praktizieren. Das Canceln und die Cancel Culture sind derart eindeutig demokratiefeindlich, daß man beides kaum direkt verteidigen kann. Die Cancel-Culture-Apologeten wenden daher diverse Diskursstrategien an, die i.w. die Begriffe verwässern und vom Problem ablenken, auf Neudeutsch also derailen. In diesem Blogpost sehen wir uns einige dieser Strategien näher an.

Zur Erinnerung: Das Canceln von (natürlichen oder juristischen) Personen kann man als ausgeweitete ad-hominem-Attacken charakterisieren. Ein unerwünschter Debattengegner wird nicht nur diskreditiert, sondern durch Mobbing, Erpressung u.ä. Methoden wirtschaftlich und/oder sozial geschädigt oder vernichtet, z.B. aus seinem Job vertrieben (Details der Methoden s. Rauch (2020)). Cancel Culture ist das gehäufte und ggf. offen zelebrierte, propagandistisch unterstützte Canceln von Individuen mit dem gewünschten Effekt einer Schweigespirale und der Eliminierung ideologisch unerwünschter Standpunkte aus dem Debattenraum.

Den NDR, dessen Affinität zum Haltungsjournalismus gut bekannt ist und der noch vor kurzem die Debatte um die Cancel Culture als "konstruiert" abkanzelte, hat die aufkommende Protestwelle derartig aufgeschreckt, daß man aktuell eine ganze Woche lang im Rahmen einer "NDR Debatte" das Thema mit gut einem Dutzend Beiträgen behandelt. Diese Serie kann insgesamt als repräsentativ für andere ÖRR-Medien und die dominierende Presse angesehen werden. Das Ganze wirkt wie ein Versuch, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten und die Debatte, deren Gegenstand man teilweise selber ist, zu kanalisieren.

Als erstes fällt auf, daß sehr viele der zu Wort kommenden Personen Künstler sind, insb. Comedians oder Kabarettisten. Künstler sind natürlich gleichberechtigte Teilnehmer an öffentlichen Debatten, allerdings nur eine sehr spezielle (medial überrepräsentierte) Minderheit. Die künstlerischen Mittel schaffen eigene Probleme. Ein Interviewpartner konstatiert zutreffend, "das Problem in Deutschland sei ein grassierendes Nicht-Verstehen von Kunst". Dieses Kunstverständnisproblem und die Frage, was Kunst noch darf und was nicht mehr, hat mit dem Kernproblem der Cancel Culture überhaupt nichts zu tun. Es ist allenfalls eine spezielle, besonders komplizierte Ausprägung. Alleine durch die Auswahl der Themen und Interviewpartner lenkt der NDR also vom Kernproblem ab.

Etwas repräsentativer für die Debatte über die Cancel Culture sind die Teilnehmer einer halbstündigen Sendung am 08.09.2020, darunter die bekannte feministische Aktivistin Jagoda Marinic. Marinic bietet uns in nur 2 Sätzen:

[ab ca. 29:40] "wir haben keine gecancelten Fälle [in Deutschland]" ... [wir haben] "... eine viel vielfältigere Gesellschaft als vor 20 Jahren, wo ein gewisses Canceln dadurch stattfand, daß viele am Diskurs gar nicht teilgenommen haben.
gleich ein Sortiment an Derailing-Methoden an:
  1. Nach Marinic gibt es ganz einfach keine Cancel Culture in Deutschland, zumindest keine im Sinne der o.g. Appelle. Der Cancel-Culture-Diskurs soll also gecancelt werden. Das kann man gut fordern, wenn man zur privilegierten Kaste der Personen gehört, die ihre - randständigen feministischen - Sichtweisen in einem reichweitenstarken Sender wie dem NDR verbreiten dürfen. Einige tausend Unterschriften im Appell für freie Debattenräume sprechen indes deutlich gegen diese Wahrnehmung. Ferner empfehle ich Berger (2020) als Lektüre.
  2. Wenn es denn doch einzelne Fälle von Canceln in Deutschland geben sollte, dann wird dieses Unrecht kompensiert durch früheres, ca. 20 Jahre altes Unrecht, das "marginalisierten" Gruppen angetan wurde. Die Verrechnung von Unrecht ist ein im Feminismus gängiges, deswegen aber trotzdem nicht haltbares Blutrache-Argument und so absurd, daß eine nähere Befassung überflüssig erscheint.
  3. Man muß die "20 Jahre" wohl nicht wörtlich nehmen, tatsächlich wird aus den gleichen Kreisen ständig beklagt, die von ihnen vertretenen Gruppen (Frauen, sexuelle oder andere Minderheiten) kämen auch heute nicht zu Wort und könnten am Diskurs "gar nicht teilnehmen". Dazu äquivalent ist der Kampfbegriff von der fehlenden "gleichberechtigten Teilhabe" (am Diskurs und an der Macht), er ist gang und gäbe.
Das Argument, gecancelt zu sein, weil man nicht am Diskurs teilnimmt bzw. teilnehmen kann oder konnte, ist deutlich hinterhältiger als die andren und berührt einige zentrale demokratietheoretische Probleme, wir beleuchten es daher i.f. genauer.

Vorweg: Frau Marinic ist der lebende (Gegen-) Beweis, daß ihre Behauptung nicht stimmt, sie bzw. die von ihr vertretenden Gruppen könnten am Diskurs nicht teilnehmen. Eher trifft das Gegenteil zu: sie und einige ihr ideologisch nahestehende Interessengruppen sind in unserer feministischen Presse medial seit langem extrem überrepräsentiert. Wir lassen diesen Realitätsverlust hier außen vor und nehmen i.f. trotzdem an, daß es Interessengruppen gibt, die wenig oder keinen Zugang zu den herrschenden Diskursen haben (ich kenne da eine ganz bestimmte recht gut).

  1. Aus nicht genannten Gründen nicht am Diskurs teilzunehmen ist etwas völlig anderes als der Kernbegriff des Cancelns, nämlich ausgeweitete ad-hominem-Attacken gegen Individuen, um sie sozial zu vernichten und als Person aus dem Diskurs zu beseitigen.
  2. Das Argument beklagt ein Canceln von ganzen identitären Gruppen. Es wird ja nicht ein einzelner konkreter Vertreter einer Interessengruppen benannt, der nichts sagen durfte oder sozial vernichtet wurde, sondern es wird als Unrecht dargestellt, daß der Standpunkt einer Interessengruppe nicht breit genug dargestellt wurde. In bester identitätspolitischer Tradition fühlt man sich wahrscheinlich schon über die Gruppenmitgliedschaft als Gecancelter. Dieses Gefühl hat nichts mit wirklichem Gecanceltsein zu tun.
  3. Die Nichtteilnahme am Diskurs wird als Unrecht, als Gecanceltsein hingestellt. Dies ist wörtlich genommen offensichtlich Unsinn, denn es gibt genügend Plattformen, seine Meinung ungefiltert zu äußern und am Diskurs teilzunehmen. Man hat Meinungsfreiheit, aber kein Recht auf Zuhörer.

    Man hat auch kein Recht auf Zugang zu medialen Machtpositionen - sofern das mit "Teilnahme am Diskurs" gemeint war -, um seinen Standpunkt besser durchsetzen zu können. Dies führt zur generellen Frage, wer darüber entscheidet, welche Personen bzw. Standpunkte Zugang zu solchen Machtpositionen - speziell im öffentlich-rechtlichen "Haltungs"-Rundfunk - erhalten und ob es dabei besonders demokratisch zugeht. Das hat allenfalls sehr entfernt mit der Cancel Culture zu tun. Marinic ist hier unfreiwillig komisch, denn sie profitiert ja gerade von der undemokratischen hegemonialen Machtstellung des Feminismus in den Medien.

    Schließlich hat man selbst dann, wenn es Zuhörer gibt und man sogar mediale Machtpositionen besetzt, keine Erfolgsgarantie für die eigenen Argumente. Marinic macht diesen Anspruch auf eine Erfolgsgarantie in einer Bemerkung deutlich (ab 27:25 in der NDR-Sendung): die Interessen von Minderheiten seien "gleich zu werten" wie die Interessen der Mehrheit. Marinic fordert im Kern, eine Position nur deshalb als nicht ablehnbar bzw. nicht weiter zu diskutieren anzusehen, weil sie von einer Minderheit (mit hohem Opferstatus) kommt. Dieser Machtanspruch ist undemokratisch und unter dem Begriff Tyrannei der Minderheiten bekannt. Der Witz an demokratischen Debatten ist gerade, daß man am Ende die Positionen der Teilnehmer unterschiedlich bewertet und sich für eine entscheiden muß, die die Basis des weiteren Handelns bildet. In einer Sachdebatte zu verlieren ist etwas anderes als gecancelt zu werden.

    Über welche Themen überhaupt diskutiert wird, ist auch Teil der Debatte und ein heißes Thema bei der Vorbereitung von Parteitagen, auch wenn das der "eigentlichen Debatte" vorausgeht. Man wird aber aus Zeitgründen nie alle gewünschten Themen aller Interessengruppen ausführlich diskutieren können. Die Priorisierung von Themen ist genauso wichtig wie die eigentlichen Debatte und sollte nicht durch den Opferstatus der Interessengruppen entschieden werden.

Fazit: Das Argument, gecancelt zu sein, weil man nicht am Diskurs teilnehmen konnte, ist inhaltlich unscharf. Je nach Konkretisierung führt es zu anderen Themenkomplexen, die alle nichts mit dem Kernproblem der Cancel Culture zu tun haben, es lenkt also ganz hervorragend ab.

Quellen