Montag, 31. August 2015

Wissenschaftstheorien und die Zuverlässigkeit von Wissen





Inhaltsübersicht

Motivation und Zusammenfassung

Wissenschaftstheorien im Vergleich

Schlußfolgerungen

Typische Fehlannahmen

Motivation und Zusammenfassung

Zusammenfassung

In der Geschlechterdebatte geht es häufig darum, ob bestimmte Argumente und Sachaussagen richtig oder falsch sind, und oft sogar darum, ob bestimmte Aspekte überhaupt relevant sind und betrachtet werden müssen. Das wichtigste Beispiel ist die "nature-vs.-nurture"-Debatte, also die Frage, wieweit unser soziales Verhalten, darunter unsere sexuellen Präferenzen und Identität, biologisch bestimmt ist. Damit zusammenhängend wird seit Jahren heftig über die Wissenschaftlichkeit der (real existierenden) Gender Studies debattiert. Dies wiederum führt zur Frage, wann etwas "wissenschaftlich erwiesen" ist.

Man kann in den Debatten regelmäßig zwei Typen von Teilnehmern erkennen, und zwar mehr geistes- oder sozialwissenschaftlich geprägte bzw. mehr naturwissenschaftlich geprägte, die die Argumente der Gegenseite regelmäßig für unbewiesen, unpräzise, reine Glaubenssache, essentialistisch und prinzipiell irrelevant bezeichnen. Viele Debatten verlaufen daher nicht konstruktiv. Der harte Kern dieses Problems liegt darin, daß in der Geschlechterdebatte Wissen aus ganz verschiedenen Wissenschaftsgebieten eine Rolle spielt und in diesen Wissenschaftsgebieten sehr verschiedene Wissenschaftstheorien benutzt werden. Ziel dieses Beitrags ist,

  1. die Ursachen für diese Konflikte zu beleuchten, wobei fast zwangsläufig der generelle Konflikt zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und Natur- und Formalwissenschaften andererseits zur Sprache kommt,
  2. die Wissenschaftstheorien der involvierten Wissenschaftsgebiete kurz vorzustellen,
  3. darzustellen, daß wegen des ganz anderen Charakters des jeweiligen Wissens letztlich inkompatible Wissenschaftstheorien unausweichlich sind,
  4. darzustellen, daß eine Wissenschaftstheorie nicht außerhalb des Wissenschaftsgebiets, für das sie entwickelt wurde, anwendbar ist, daher auch nicht ihre Kriterien für Wissenschaftlichkeit,
  5. den sehr unterschiedlichen Grad an Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit des Wissens in den unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten zu klären,
  6. aus diesen Beobachtungen Schlußfolgerungen zu ziehen, ob es so etwas wie "Gender Studies" geben kann, die sowohl wissenschaftlich sind als auch die hohen gesellschaftlichen Erwartungen an die praktische Nutzbarkeit der Ergebnisse erfüllen.


In die Geschlechterdebatte involvierte Wissenschaften

In die Geschlechterdebatte sind mindestens vier Disziplinen, die teilweise überlappen und die ggf. sogar selber interdisziplinär sind, wesentlich involviert:
  1. Biologie (zzgl. Medizin, Neurowissenschaft und Evolutionstheorie): insb. hinsichtlich der Frage, wie sehr unsere biologische Beschaffenheit Einfluß auf unser Sozialverhalten hat, ob es statistische Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen gibt
  2. Psychologie: insb. hinsichtlich Theorien über mentale Reaktionen und innere Antriebe
  3. Soziologie (ferner Anthropologie und ggf. Politologie): insb. bei der Beschreibung und Analyse sozialer Einflüsse auf Männer und Frauen
  4. Philosophie: u.a. bei moralisch wertenden Aussagen und ethischen Fragestellungen
Die "mentale Distanz" dieser Wissenschaftsgebiete macht man sich leicht klar, wenn man sich übliche Kategorisierungen der Wissenschaften ansieht und feststellt, daß die o.g. Themen sich quer über alle Kategorien verteilen:
  • die Formalwissenschaften, zu denen die Mathematik, formale Logik, theoretische Informatik und Teile der Linguistik und Philosophie zählen. Gegenstand dieser Wissenschaften sind abstrakte, formale Konzepte. Diese Wissenschaften, namentlich die Mathematik, werden in anderen Wissenschaften intensiv benutzt und stellen somit "Werkzeuge" für wissenschaftliches Arbeiten in anderen Wissenschaften zur Verfügung. Deshalb nennt man sie auch Basiswissenschaften.
  • die Naturwissenschaften: hierzu zählen die Physik, Chemie, Biologie und allgemeiner Wissenschaften, die empirisch arbeiten und sich mit der Erforschung der Natur befassen. Ziel ist die exakte Beschreibung natürlicher Phänomene, insofern sind diese Wissenschaften empirisch. Dieses Wissen kann sehr oft praktisch ausgenutzt werden. Die Ingenieurwissenschaften nutzen das naturwissenschaftliche Wissen aus, um technische Geräte und Verfahren zu realisieren. Die Medizin nutzt biologisches Wissen, um Therapien gegen Krankheiten zu entwickeln. Der Übergang von reinen Naturwissenschaften zu angewandten Wissenschaften ist oft fließend.
  • die Geisteswissenschaften: hierzu zählen Geschichte, Kunst, Musik, Literatur, Religion, Sprachen u.ä. Gebiete. Gegenstand dieser Disziplinen sind kulturelle, ästhetische, ggf. soziale u.ä., in der Natur nicht vorkommende "Produkte" von Menschen und die langfristigen Prozesse, die zu diesen Produkten führten.
  • die Sozialwissenschaften, zu denen u.a. die Anthropologie, Demografie, Ethnologie, Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft zählen. Gegenstand dieser Disziplinen sind Phänomene, die das Zusammenleben von Menschen und die dabei entstehenden gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Prozesse betreffen.
Die Formalwissenschaften und fast alle Geisteswissenschaften sind nichtempirisch: Sie konstruieren selber die geistigen Artefakte, die ihr Untersuchungsgegenstand sind (aus diesem Grund wird die Mathematik oft als Geisteswissenschaft bezeichnet, was aber wegen der völlig verschiedenen Wissenschaftstheorien nicht sinnvoll ist). Man erkennt hier deutlich den diametralen Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.

Die Sozialwissenschaften sind teilweise empirisch, teilweise nicht. Die Abgrenzung zu den Geistes- bzw. Naturwissenschaften ist unscharf, sowohl hinsichtlich der Fragestellungen wie der Forschungsmethoden. Viele Teilgebiete sind interdisziplinär und ordnen sich keinem der großen Wissenschaftsgebiete zu.

Dies gilt insb. auch für die Psychologie, einem für die Geschlechterfrage zentralen Gebiet. Teile der Psychologie sind eher naturwissenschaftlich bzw. eher sozialwissenschaftlich ausgerichtet.



Wissenschaftstheorien

Jede wissenschaftliche Disziplin entwickelt im Laufe der Zeit Methoden, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen werden und unter welchen Voraussetzungen sie als "wissenschaftlich bewiesen" anerkannt werden. Diese Methoden bezeichnet man auch als eine (konkrete) Wissenschaftstheorie.

Unter "Wissenschaftstheorie" versteht man oft die wissenschaftliche Analyse der einzelnen konkreten Wissenschaftstheorien, die hier selber Forschungsgegenstand werden. Dies bezeichnen wir als Meta-Wissenschaftstheorie. Diese Meta-Ebene klammern wir hier aus und werden i.f unter "Wissenschaftstheorie" immer eine konkrete Wissenschaftstheorie verstehen.

Im Laufe der Zeit sind sehr viele konkurrierende konkrete Wissenschaftstheorien vorgeschlagen worden (s. diese Übersicht). Die Autoren dieser Theorien sind in verschiedenen Disziplinen beheimatet und repräsentieren in gewisser Weise einen Konsens, wie man erfolgreich in ihrer eigenen Disziplin wissenschaftlich arbeitet. Es sind auch Bemühungen erkennbar, die unterschiedlichen Wissenschaftstheorien zu vereinheitlichen. Dieses naheliegende Ziel scheint aber nicht erreicht worden zu sein, es wird vermutlich auch nie erreicht werden. Hauptursache hierfür ist, daß die Struktur und der Sinngehalt der Aussagen in den Disziplinen zu unterschiedlich ist.


Wissenschaftstheorien im Vergleich

Einleitung

Die Wissenschaftsgebiete, die für die Geschlechterdebatte relevant sind, haben teilweise diametral entgegengesetzte Wissenschaftstheorien, man kann schon von einem Aufeinanderprallen der Kulturen reden. Auffällig ist dies bei der Frage, ob es so etwas wie "Objektivität" bzw. "objektives Wissen", also unabhängig von Menschen gültige Wahrheiten gibt. In den Naturwissenschaften wird dies eindeutig bejahrt - zentral ist hier der Modellbegriff -, während dies in den Geisteswissenschaften klar verneint wird. In den Sozialwissenschaften ist die Haltung dazu ambivalent; teilweise haben Sozialwissenschaftliche Theorien den Charakter von Modellen, teilweise nicht.

I.f. gehen wir zunächst auf den Modellbegriff ein, der für das moderne (Natur-) Wissenschaftsverständnis zentral ist, und fragen uns, welches im Kontext der Geschlechterdebatte relevante Wissen als Modell gelten kann.



Modelle

Modelle begegnen uns täglich. Ein Organigramm ist ein Modell eines Unternehmens. Eine Puppe ist ein Modell eines Menschen oder eines Tiers. Eine Landkarte ist ein Modell eines Teils der Erdoberfläche. Das Fallgesetz ist ein Modell eines Vorgangs, wie sich ein Körper durch Schwerkraft bewegt bzw. beschleunigt wird. Das Bohrsche Atommodell ist ein (relativ einfaches) Modell von Atomen, das bestimmte Elemente der Quantenmechanik veranschaulicht. Ein Wahlergebnis ist ein Modell vom politischen Willen einer Bevölkerung. Eine Verkehrsunfallstatistik ist ein Modell von der Fahrtüchtigkeit der Menge der Fahrer. Ein (Vor-) Urteil ist ein Modell von der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Verhalten oder bestimmter Merkmale in einer Bevölkerungsgruppe.

Unser "Wissen" besteht weitgehend aus solchen Modellen, und die meiste Wissensvermittlung basiert auf Modellen. Wenn man den Begriff Modell weiter präzisieren will, kommt nicht daran vorbei, verschiedene Verwendungen von Wissen zu unterscheiden.

  • Verstehen und Informationsreduktion. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie ein mehr oder weniger großer Körper ausgehend von irgendeinem Ort in einem Schwerkraftfeld seinen Ort mit der Zeit verändert. Die Fallgesetze abstrahieren von diesen Einzelheiten und reduzieren die unendliche Menge von Einzelfällen auf die gemeinsame Struktur.
  • Prognosen. Wenn man einen Hebel an der einen Seite mit einer bestimmten Kraft drückt, dann kann man voraussagen, welche Kraft an der anderen Seite auftreten wird. Wenn man bei einem Getriebe die Eingangswelle mit einer bestimmten Drehzahl dreht, kann man voraussagen, mit welcher Drehzahl und Drehrichtung sich die Ausgangswelle drehen wird. Wenn man den Preis eines Produkts senkt, steigt mit hoher Wahrscheinlichkeit die verkaufte Menge an, man kann es aber nicht genau voraussagen.
Abstrakter ausgedrückt ist ein Modell ist ein "beschränktes Abbild" eines anderen Systems. Nach Herbert Stachowiak ist es durch mindestens drei Merkmale gekennzeichnet:
  1. Abbildungsmerkmal: Ein Modell ist stets ein Modell von einem anderen System, das in diesem Zusammenhang als "das Original" bezeichnet wird. Das Original kann real oder imaginiert sein, früher, heute oder künftig existieren und ggf. selbst auch ein Modell sein. Das Modell ist insofern Abbild des Originals, als es bestimmte interessierende Eigenschaften korrekt wiedergibt.
  2. Verkürzungsmerkmal: Ein Modell erfasst i.a. nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, die im Rahmen der Zweckbestimmung des Modells durch den Modellerschaffer und/oder die Nutzung durch den Modellnutzer relevant erscheinen.
  3. Pragmatisches Merkmal: Modelle sind ihren Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Sie erfüllen ihre Ersetzungsfunktion a) für bestimmte Subjekte, b) innerhalb bestimmter Zeitintervalle und c) unter Einschränkung auf bestimmte gedankliche oder tätliche Operationen. Anders gesagt kann es für das gleiche Original verschiedene Modelle geben, abhängig vom Nutzer, Zeitpunkt der Entstehung oder Nutzung des Modells und von der beabsichtigten Verwendung. Beispielsweise sind eine Straßenkarte und eine topographische Karte des gleichen Gebiets zwei verschiedene Modelle des gleichen Originals, die verschiedenen Zwecken dienen.
Modelle erheben also nicht den Anspruch, die "volle Wahrheit" auszudrücken oder den Sinn oder die Ursprünge eines Phänomens zu erklären. Zentral ist die Anspruch, gültige Prognosen über das modellierte Original zu machen, und zwar fast immer unter bestimmten Randbedingungen. Die Gesetze der klassischen Mechanik sind z.B. korrekte physikalische Modelle unter der Randbedingung, daß die involvierten Objekte geringe Massen, die keine relevante Schwerkraft ausüben, haben und Bewegungen nur langsam im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit sind. Andernfalls ist die Relativitätstheorie zu verwenden.

Literatur

  • Herbert Stachowiak: Allgemeine Modelltheorie. Springer, 1973.


Wissen in den Naturwissenschaften

Unter Naturwissenschaften versteht man die Wissenschaften, die sich mit der Erforschung der Natur befassen bzw. die, anders ausgedrückt, korrekte Modelle der Natur entwickeln. Häufig sind die Modelle mathematische Formeln, d.h. es handelt sich um quantitative Aussagen über die Natur. Ebenfalls häufig sind strukturelle Modelle, z.B. für Moleküle, die Anordnung von Atomen im Raum und deren Bindungen veranschaulichen.

Naturwissenschaftliche Modelle werden für beide oben genannte Zwecke von Modellen, Verstehen bzw. Prognosen, benutzt. Das reine Verstehen der Natur befriedigt die menschliche Neugierde. Viel wichtiger sind Prognosen: Die Ingenieurwissenschaften stellen Konstruktionsmethoden zur Verfügung, mit denen funktionierende Apparate und Maschinen gebaut werden können. Eine Maschine "funktioniert", wenn sich die Prognose erfüllt, daß sie im Betrieb ein spezifiziertes Verhalten aufweisen wird. Diese Prognose basiert letztlich auf der Gültigkeit der ausgenutzten naturwissenschaftlichen Modelle.

Wenn naturwissenschaftliche Modelle den Anspruch erheben, Prognosen zu erlauben, dann wird dabei unterschwellig eine wichtige Annahme über die behandelten Phänomene gemacht: diese müssen i.a. beliebig oft wiederholbar sein, und die Prognose muß ausnahmslos bei jeder Wiederholung eintreten. Wenn sich nun eine Maschine nicht wie prognostiziert verhält, obwohl kein Konstruktions- oder Fertigungsfehler vorliegt und kein störender Einfluß vorhanden ist, gilt das Modell als widerlegt.

Auf dieser Kernidee basiert der Falsifikationismus, die in den Naturwissenschaften dominierende Wissenschaftstheorie: Ein Modell - also naturwissenschaftliches Wissen - gilt solange als zutreffend, solange im Rahmen seines Anwendungsbereichs alle Prognosen eintreffen. Sobald eine Prognose reproduzierbar scheitert, gilt das Modell als widerlegt und muß verbessert werden, z.B. durch Einschränkung seines Gültigkeitsbereichs, oder für völlig ungültig erklärt werden. Es ist wichtig, sich folgende Annahmen klar zu machen, ohne die der Falsifikationismus nicht als Wissenschaftstheorie nutzbar ist:

  • Experimente, deren Ausgang die Modelle prognostizieren, sind beliebig wiederholbar.
  • Die Experimente müssen so durchführbar sein, daß Fremdeinflüsse ausgeschlossen sind. Dies ist i.a. nur in einer "Laborumgebung" möglich.
  • Man benötigt Meßgeräte bzw. geeignete Verfahren, mit denen das Experiment ausreichend präzise beobachtet wird (mehr dazu unten).
  • Typischerweise können zu einem Zeitpunkt nur wenige numerische Werte gemessen werden, und das Phänomen drückt sich als einmaliger Wert, ein zeitlicher Verlauf von Werten oder eine statistische Verteilung der Werte aus.
  • Sofern Phänomene mehrfach am gleichen Original auftreten können, darf das System keine "Erinnerung" haben oder lernfähig sein. Anders gesagt darf das untersuchte System nicht von früheren Experimentdurchführungen beeinflußt werden bzw. sich mit der Zeit nicht wesentlich verändern.
Die vorstehenden Bedingungen sind Merkmale des Wissens, also der Aussagen, deren Wahrheitsgehalt zur Diskussion steht. Fast alle Aussagen in der Physik, Chemie und Biochemie erfüllen diese Bedingungen. In der allgemeinen Biologie, der Medizin und der Psychologie erfüllen viele Aussagen diese Bedingungen, allerdings bei weitem nicht alle. In der Biologie kann man z.B. diverse Stoffwechselprozesse relativ präzise durch passende Materialflußmodelle nachbilden und empirisch überprüfen, indem man die entstehenden Zwischenprodukte nachweist. Ebenso kann man einfache Vererbungsgesetze systematisch in der Tier- bzw. Pflanzenzucht ausnutzen, also empirisch bestätigen. Die empirische Bestätigung von biologischem und medizinischem Wissen über Menschen ist teilweise möglich, teilweise nicht, z.B. wenn Tests zu riskant für die Gesundheit der Testpersonen sind.

Ein Teilgebiet der Biologie, das im Kontext der Geschlechterdebatte oft zitiert wird, sind die Strukturen unserer Gehirne. Man kennt die Funktionen einzelner Areale recht gut, vor allem infolge von Unfällen oder Krankheiten, die zur Beschädigung der Areale und zum nachfolgenden Verlust der dort realisierten Fähigkeiten führten. Die Schlußfolgerung aus diesen Einzelfällen zu einer allgemeinen Aussage, daß ein bestimmtes Areal eine bestimmte Funktion hat, basiert auf dem Prinzip der Induktion. Eine Aussage, die mittels Induktion bei einer hohen Zahl von früheren, nicht wiederholbaren Beobachtungen "bewiesen" wird, kann sehr glaubwürdig sein, sie ist aber aber im Prinzip weniger glaubwürdig bzw. zuverlässig als eine falsifizierbare Aussage.

Festhalten kann man jedenfalls, daß entgegen der landläufigen Meinung keineswegs alle naturwissenschaftlichen Aussagen tatsächlich falsifizierbar sind und daß oft "nur" mit Induktion oder anderen Beweismethoden gearbeitet wird. Diese Aussagen sind daher als weniger zuverlässig einzuschätzen.

Objektivität und die Bedeutung der Meßtechnik

Die Objektivität der Verfahren, mit denen Experimente beobachtet werden, ist sehr wichtig. Diese Verfahren müssen mehrere Eigenschaften aufweisen:
  • Sie dürfen die Meßergebnisse nicht verfälschen, weil sie das Experiment irgendwie beeinflussen.
  • Sie dürfen nicht von Fähigkeiten oder Einflüssen eines Experimentators abhängen, sondern müssen i.a. (theoretisch) von beliebigen Experimentatoren praktizierbar sein.
  • Die Meßgenauigkeit muß für den Beobachtungszweck angemessen sein. Wenn man z.B. die Behauptung "In einem Schwerkraftfeld werden Massen zur Mitte des Felds hin beschleunigt" prüfen will, ist i.a. ein menschlicher Beobachter ausreichend präzise. Will man die Gültigkeit des Ohmschen Gesetzes im Fall von Wechselströmen überprüfen, braucht man relativ komplizierte Meßgeräte.
Generell muß die Beschreibung eines Naturgesetzes im Zweifelsfall explizit angeben, welche Anforderungen die Meßtechnik erfüllen muß. Die zu überprüfende Behauptung ist dann nicht nur "es wird Phänomen X auftreten", sondern "das Meßverfahren M wird XYZ anzeigen". Das Meßverfahren ist insofern integraler Bestandteil der Behauptung des Naturgesetzes.


Wissen in den Sozialwissenschaften

Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und die (Sozial-) Psychologie stellen ebenfalls vielfach Aussagen auf, die Modellcharakter haben und die sogar explizit einen Anspruch auf Prognosefähigkeit erheben. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich "feministische Interventionen", "Konjunkturprogramme" und andere Steuerungsmaßnahmen begründen, von denen man sich nützliche Effekte erhofft.

Allerdings sind die oben gelisteten Merkmale falsifizierbarer Aussagen durchweg nicht erfüllt: Die modellierten Originale sind zu komplex, sind lernfähig, nicht objektiv vermeßbar (wann sind z.B. Personengruppen "glücklich" oder "optimistisch"?), falsifizierende Experimente sind nicht durchführbar usw.

Notgedrungen muß man daher in den Sozialwissenschaften auf das Prinzip der Induktion oder andere Beweismethoden zurückgreifen. Eine weitere Maßnahme besteht darin, sehr allgemeine Aussagen zu vermeiden und zu konkreteren Aussagen mit eingeschränktem Gültigkeitsbereich überzugehen. Eine konkretere Aussage kann leichter "glaubwürdig bewiesen" werden, dafür ist sie andererseits nicht immer anwendbar und insofern uninteressant.

Vordergründig entwickeln Teile der Psychologie und der empirischen Sozialforschung falsifizierbare Modelle des menschlichen Verhaltens. Allerdings betreffen diese Modelle bzw. Aussagen stets nur schmale Ausschnitte der Originale (Menschen, Gesellschaften), d.h. sie beschreiben bestimmte isolierte Phänomene korrekt, aus diesen Phänomenen kann aber nicht die Gesamtstruktur des Originals abgeleitet werden. Anders gesagt sind diese Aussagen nur unter sehr einschränkenden, ggf. sogar nicht genau bekannten Bedingungen korrekte Modelle, man kann sie nicht darüber hinaus verallgemeinern. Daher kann man mit ihnen fast keine sicheren Prognosen machen, welchen Effekt Interventionen an den Originalen bewirken werden.

Wechselwirkung zwischen Modell und Orginal (bzw. zwischen Realität und Wissen über die Realität)

Wissen in den Sozialwissenschaften weist einen prinzipiellen Unterschied zu Wissen in den Naturwissenschaften auf: es ist unter Umständen ein relevanter Teil der modellierten Realität. Wenn bspw. die Regierung ein Konjunkturprogramm durchführt - z.B. die Förderung der Verschrottung älterer PKWs - dann wird dabei ein volkswirtschaftliches Modell unterstellt, wonach als Folge dieses Programms die Verkäufe der PKW-Hersteller steigen und diese als Folge mehr Personal einstellen, letzteres ist die gewünschte Wirkung. Die Erstellung bzw. Existenz dieses Modells hat also die Realität erheblich beeinflußt. Natürlich hat nicht jedes Modell der sozialen Realität tatsächlich Auswirkungen auf die Realität, das Potential ist aber häufig vorhanden. Eine ähnliche Wechselwirkung von Wissen über die Realität auf die Realität ist in den Naturwissenschaften nicht denkbar, Modell und Original sind dort strikt getrennt.

Ein soziales Modell, das Auswirkungen in der Realität hat - z.B. Wissen von Marktteilnehmern über die Wirtschaftslage - und das sich an Änderungen der Realität ggf. zeitverzögert anpaßt, ist i.a. kein korrektes Modell der Realität mehr. Es müßte sich eigentlich selber enthalten. Ansätze zur Modellierung von rückgekoppelten bzw. lernenden Systemen liefert die Spieltheorie.

Entstehung, Begründung und Verwertung von Wissen in den Sozialwissenschaften

In den Naturwissenschaften ist die Menge der interessanten Modelle relativ beschränkt. Man könnte z.B. an dem Phänomen, daß Wasser den Berg herauffließt, interessiert sein und es erforschen wollen, aber noch so umfangreiche Projekte werden nichts entsprechendes finden. In den Sozialwissenschaften ist wegen der Komplexität der sozialen Systeme die Menge der denkbaren Modelle wesentlich größer. Man kann z.B. praktisch jeden sozialen Vorgang auf die Frage hin untersuchen, ob dort Frauen irgendwie diskriminiert werden, also bei entsprechender Befragung ein Unwohlsein äußern, und wird immer irgendwelche Indizien finden, wenn man nur lange genug nachfragt. In diesem Zusammenhang unterscheidet man drei Zusammenhänge oder Phasen, in denen Wissen entsteht:
  • Entstehung der Untersuchungsgegenstände: deren Auswahl kann von wissenschaftsexternen Faktoren, z.B. von politischen oder wirtschaftlichen Interessen, abhängen.
  • Begründung: die Überprüfung bzw. Begründung von Hypothesen soll frei von äußeren Einflüssen und Wertungen sein (im Gegensatz zur Entstehung).
  • Verwertung: in einem separaten Schritt ist zu entscheiden, ob und wie die (hoffentlich richtigen) Erkenntnisse verwertet werden. Wie schon oben erläutert sind die Aussagen meist nur unter sehr einschränkenden Bedingungen validiert worden, und ihre Verallgemeinerbarkeit (externe Validität) oft unklar.
In den Naturwissenschaften würde man Aussagen, die nur unter extrem einschränkenden Bedingungen gültig sind, als uninteressant ansehen und gar nicht erst versuchen, diese zu verallgemeinern.

Die Glaubwürdigkeits- und Replikationskrise in der Psychologie und Soziologie

Seit rund 20 Jahren mehren sich die Zweifel, ob die Ergebnisse der Sozialwissenschaften (und der Psychologie) vertrauenswürdig sind. Gestützt werden die Zweifel durch Skandale wie die Sokal-Affäre und die "Replikationskrise - viele grundlegende Phänomene können bei Versuchswiederholungen nicht reproduziert werden, waren also Zufall oder sogar Fälschungen. Betroffen hiervon sind insb. die angeblichen Wirkungen von Stereotypen und der Selbsteinschätzung auf die Leistung von Personen. Mehr Details und Quellen hierzu s. separate Seite Die Glaubwürdigkeits- und Replikationskrise in der Psychologie und Soziologie.


Wissen in der Mathematik und den Formalwissenschaften

Zu den Formalwissenschaften gehört vor allem die Mathematik, die theoretische Informatik, bestimmte Anteile der Philosophie u.ä. Gebiete. Diese enthalten wiederum Gebiete wie die formale Logik. Wegen der Dominanz der Mathematik innerhalb der Formalwissenschaften konzentrieren wir uns i.f. auf die Mathematik.

Gegenstand der Mathematik bzw. der Formalwissenschaften sind formale Systeme, z.B. abstrakte Mengen, Zahlen, logische Ausdrücke usw. "Wissen" in der Mathematik besteht aus Axiomen und daraus formal ableitbaren Theoremen. Praktisch die komplette moderne Mathematik benötigt nur das abstrakte Konzept "Menge" (genauer gesagt die Axiome Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre) als Basis. Ein Beispiel für eine zulässige Beweismethode ist die vollständige Induktion. M.a.W. hat die Mathematik eine formale, sehr spezielle Wissenschaftstheorie.

Mathematisches Wissen ist daher extrem zuverlässig. Daß sich ein mathematisches Theorem, das in der Praxis benutzt wurde, als falsch herausstellt, ist fast undenkbar. Auf einem anderen Blatt steht, daß mathematisches Wissen schwer zu lernen ist und oft nicht richtig angewandt wird; das ist allerdings ein Ausbildungs- bzw. Talentproblem.

Die Mathematik wird übrigens häufig fälschlicherweise als eine Naturwissenschaft angesehen, mehr hierzu s.u.



Wissen in den Geisteswissenschaften

Die Geisteswissenschaften umfassen eine große Zahl von Einzeldisziplinen, welche sich mit kulturellen, geistigen, medialen, teilweise auch sozialen, historischen, politischen und religiösen Phänomenen befassen. "Wissen" in den Geisteswissenschaften hat großenteils die Form, daß irgendetwas schön, gut, gerecht, moralisch wertvoll, sinnstiftend etc. ist.

In Disziplinen wie Musik, Kunst, Literatur u.ä. spielen ästhetische Fragen eine große Rolle, im Kontext der Geschlechterdebatte sind dies aber nur Randthemen. Relevanter sind Themen bzw. Disziplinen, die soziale Phänomene beschreiben und bewerten. Eine besonders wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Anthropologie und die Geschichtsforschung, denn sozialen bzw. individuduelle Entwicklungsprozesse dauern sehr lange. Ggf. werden das bewerteten Phänomene mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden und sozialer Modelle erforscht und beschrieben, die Bildung dieser Modelle ist aber nicht zentraler Gegenstand der Geisteswissenschaften (sondern allenfalls ein eigenes interdisziplinäres Gebiet). Typisch für anthropologisch beeinflußte Disziplinen der Geisteswissenschaften ist daher eine historische Denk- und Argumentationsweise: Im Gegensatz zu Naturwissenschaftenm kann Erfahrungswissen nicht jederzeit im Labor reproduziert bzw. neu generiert werden, sondern die Menge der "Experimente mit menschlichen Gesellschaften" ist durch die Geschichte abschließend vorgegeben.

Bewertungen natürlicher oder sozialer Phänomene sind im Prinzip willkürlich und in der Natur als solche nicht vorhanden, also Konstrukte, die diese Wissenschaft selber erzeugt. Zusammengefaßt kann man dies als Interpretation der Realität bezeichnen. Das "Wissen", das irgendetwas schön oder gerecht ist, ist also prinzipiell eine willkürliche Festlegung. Derartiges Wissen hat keinen Modell- oder Prognose-Charakter, es beschreibt die Realität nicht, sondern bewertet sie. Deshalb sind auch Wissenschaftstheorien wie der Falsifikationismus oder mathematische Kalküle hier prinzipiell nicht anwendbar. Eine geisteswissenschaftliche Theorie kann auf innere Widerspruchsfreiheit und ähnliche formale Kriterien, soweit sie mathematisch oder philosophisch greifbar sind, überprüft werden. Allerdings kann damit bei einem Streit zwischen zwei Theorien, die den Begriff "gerecht" definieren, nicht entschieden werden, welche Definition die richtige(re) ist.

Die so gebildeten wertenden Begriffe können soziale Prozesse steuern und insofern Teil dieser Prozesse werden. Z.B. kann als ungerecht klassifiziertes Verhalten bestraft werden, d.h. die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung, insb. die jeweils geltende Gerechtigkeitstheorie und damit zusammenhängend die geltende politische Ideologie (vgl. auch Politisches Wertedreieck), hat oft massive reale Auswirkungen. Man kann nun versuchen, die Gültigkeit geisteswissenschaftlicher Theorien danach zu bewerten, ob und wie sie in sozialen Prozessen eine erwünschte Steuerungswirkung entfalten. Allerdings handelt man sich damit alle Probleme ein, die die Soziologie bei der Beschreibung der Realität und der Bildung von Modellen hat. D.h. das eigentliche Problem, eine Wissenschaftstheorie für geisteswissenschaftliche Aussagen zu erhalten, wird eher verschlimmert.


Schlußfolgerungen

Zusammenfassung: Wissen ist unterschiedlich zuverlässig

Das "Wissen", das die einzelnen Wissenschaften "schaffen", hat in den großen Wissenschaftsgebieten einen sehr verschiedenen Charakter. Große Teile der Naturwissenschaften gehen von der zentrale Annahme aus, daß es eine unabhängig vom Menschen vorhandene Natur gibt und das Wissen darin besteht, diese Natur möglichst exakt mit Modellen zu beschreiben. Mit zunehmender Komplexität der "Systeme", namentlich bei Menschen und Gesellschaften, ist dieses Ziel nicht mehr erreichbar, d.h. man kann Aussagen nicht mehr beweisen oder widerlegen, sie sind nur noch häufig auftretende Beobachtungen, die i.d.R. eine plausible innere Logik haben. Die Geisteswissenschaften wiederum definieren Werte und menschliche bzw. gesellschaftliche Ziele im Prinzip völlig unabhängig vom Status quo oder mit Bezug auf eine eventuell unschöne Realität. Die Zuverlässigkeit des Wissens in dem Sinne, daß man unter Nutzung dieses Wissens in der Realität bzw. der Politik "ingenieurmäßig" bestimmte Effekte zuverlässig erzeugen kann, nimmt in den Gebieten rapide ab:
  • Wissen in der Mathematik und generell in den Formalwissenschaften wird formal bewiesen und ist völlig zuverlässig.
  • Wissen in den Naturwissenschaften ist hochgradig zuverlässig (solange die Randbedingungen der Anwendbarkeit eingehalten werden), speziell dann, wenn die Bedigungen für die Falsifizierbarkeit erfüllt sind. Diese Bedingungen sind speziell bei vielen medizinischen oder biologischen Themen - z.B. Vererblichkeit von Talenten - nur eingeschränkt oder gar nicht erfüllt.
  • Wissen in den Sozialwissenschaften ist weitgehend unzuverlässig. Viele interessiende soziale Strukturen ist zu komplex, um sie hinreichend genau beschreiben zu können. Ihre Entstehung ist zu langfristig, um sie experimentell überprüfen und ggf. widerlegen zu können.
  • Wissen in den Geisteswissenschaften ist meistens eine willkürliche Setzung. Der Begriff Zuverlässigkeit ist hier prinzipiell nicht anwendbar.


Das Dilemma einer seriösen Geschlechterforschung

Geschlechterforschung findet heute vor allem als Zweckwissenschaft der feministischen Ideologie unter dem Etikett Gender Studies statt.

In den letzten 2 - 4 Jahren ist diese Kritik an den Gender Studies bis in die Mainstream-Medien vorgedrungen. Zu den markantesten Vorkommnisse zählen der Artikel Schlecht, schlechter, Geschlecht von Harald Martenstein, der eine heftige und anhaltende Diskussion auslöste, oder z.B. der Artikel Aus Angst vor einem anderen Leben von Catherine Newmark, der die Gender Studies verteidigte, dessen über 800 Kommentare indes weit überwiegend die bekannte Kritik an den Gender Studies betonten.

In einem eher akademischen Umfeld wagte sich der Gender-Forscher Stefan Hirschauer 2014 aus der Deckung und publizierte in der Zeitschrift Forschung und Lehre eine vielbeachtete Insider-Kritik an den Gender Studies, in der er eine völlige Neuorientierung der Gender Studies fordert.

Einige verbreitete Kritikpunkte sind offensichtlich richtig, namentlich die politische Einflußnahme auf die Forschung und die Besetzung von Forscherstellen durch (biologische) Frauen, für deren Auswahl die ideologische Gesinnung und/oder sexuelle Orientierung wichtiger als die Forschungskompetenz zu sein scheint. Diese offensichtlichen Kritikpunkte klammern wir i.f. aus und konzentrieren uns auf die Anteile der Geschlechterforschung, die zumindest versuchen könnten, wissenschaftlich seriös zu arbeiten. Zu diesem potentiell seriösen Anteil stelle ich hier eine pessimistische These zur Debatte:

Auch eine bessere, seriöse Geschlechterforschung würde nicht viel weniger kritisiert werden, weil die Erwartungen prinzipiell nicht erreichbar sind.

Erwartungen an die Geschlechterforschung

Kritik wird immer vor dem Hintergrund nicht erfüllter Erwartungen formuliert. Daher müssen wir zunächst die Erwartungen klären. Hier kann zwei Perspektiven in der öffentlichen Debatte erkennen:
  • Geschlechterforschung als reine, zweckfreie Wissenschaft
  • Geschlechterforschung als angewandte Wissenschaft, die politischer Entscheidungen begründet und Lösungen konkreter sozialen Probleme liefert.

Geschlechterforschung als reine Wissenschaft

Eine Wissenschaft wird normalerweise durch ein dominierendes Oberthema definiert, das in viele Unterthemen gegliedert sein kann, aber nichtsdestotrotz z.B. gemeinsame Basistheorien ermöglicht und einheitliche wissenschaftliche Arbeitsmethoden und Standards aufweist.

Als Oberthema der Geschlechterforschung werden oft die Differenzen zwischen Männern, Frauen und weiteren "Geschlechtern" definiert, und zwar in biologisch-medizinischer, psychischer, sozialer und philosophischer Hinsicht.

Geschlechterdifferenzen werden von jeher sowieso innerhalb der Wissenschaftsgebiete untersucht oder, wenn bisher noch nicht, können bzw. sollten dort untersucht werden. Solche Geschlechterdifferenzen können also kein Kernthema einer anderen, konkurrierenden Wissenschaft "Geschlechterforschung" sein.

Beispielsweise wurde vor einiger Zeit in einer TV-Debatte behauptet, die Untersuchung unterschiedlicher Medikamentierungen von Frauen und Männern sei ein Thema der Gender Studies, mit Hinweis darauf, daß bisherige Medikamentierungen an Männern orientiert sind, weil nur diese in den Zulassungsverfahren als Testpersonen benutzt wurden. Geschlechtsspezifische Medikamentierungen sind indes ein rein medizinisches Problem. Daß bisher nur Männer als Testpersonen benutzt wurden, ist ein Defizit bisheriger Untersuchungen, das sozial verursacht ist (Geringschätzung der Gesundheit von Männern). Deswegen kann das Medikamentierungsproblem aber nicht mit Methoden der Sozialforschung gelöst werden.

Interdisziplinäre Themen und deren Probleme

Für eine eigene Wissenschaft "Geschlechterforschung" bleiben daher nur die tatsächlich interdisziplinären Themen übrig. Ein klassisches Beispiel sind biologisch geprägte geschlechtsabhängige Verhaltensmuster, z.B. sexuelle Orientierungen oder unterschiedliche intellektuelle Entwicklungen von Jungen und Mädchen. Im Endeffekt müssen hier Forschungsthemen und Forschungsmethoden aus mehreren Wissenschaftsgebieten zusammenspielen und kombiniert werden. Dies ist äußerst anspruchsvoll, um nicht zu sagen meistens unmöglich:
  • inkompatible Wissenschaftstheorien: Wie schon im Abschnitt "Wissenschaftstheorien im Vergleich" diskutiert haben die großen Wissenschaftsgebiete völlig verschiedene, um nicht zu sagen inkompatible Wissenschaftstheorien.
  • Nicht beherrschbare Komplexität: Typischerweise interessiert man sich für soziologische Phänomene, auch mit Blick auf die politische Verwertbarkeit. Durch die Einbeziehung (verhaltens-) biologischer Einflußfaktoren wird die Komplexität der Fragestellungen und Untersuchungsszenarien deutlich gesteigert gegenüber den Einzelwissenschaften und ist letztlich nicht mehr beherrschbar.

    Als Ausweg und um die Komplexität wieder auf einen handhabbaren Umfang zu reduzieren, werden die Themen typischerweise durch einschränkende Annahmen wieder auf Einzelaspekte reduziert, also letztlich nur Spezialfälle untersucht. Die Ergebnisse sind dann eher Kasuistik und nicht mehr hinreichend verallgemeinerbar (z.B. auf Gesamtbevölkerungen). Die Einzeluntersuchungen bilden in ihrer Gesamtheit einen Flickenteppich mit widersprüchlichen Einzelergebnissen.

    Ein Beispiel hierfür ist die Forschung zu den Auswirkungen von Frauenquoten in Unternehmensvorständen, die in ihrer Gesamtheit zu vielen Widersprüchen führt und letztlich die postulierten generellen Vorteile von Frauen in Vorständen nicht beweist, generelle Nachteile aber auch nicht.

  • unzureichende Vermittelbarkeit: Tatsächlich interdisziplinäre Themen "leiden" unter einer großen Zahl zu berücksichtigender Faktoren und führen selten zu einfach verständlichen Schwarz-weiß-Aussagen. Oft sind sie zu komplex oder unscharf, um der breiten Öffentlichkeit ohne besondere Vorkenntnisse vermittelt werden zu können. Damit sind sie politisch schlecht verwertbar, denn Politik basiert oft auf einfachen, propagandistischen Aussagen.

    Hinzu kommt in politischer Hinsicht das Problem, daß für viele Fragestellungen konkurrierende Theorien kursieren, die wissenschaftlich unfundiert sind und eher Verschwörungstheorien zu bezeichnen sind (Beispiel: die Theorie vom Patriarchat). Solche Verschwörungstheorien sind aber simpler und eingängiger und werden oft von Medien oder anderen Debattenteilnehmern mit entsprechendem Nachdruck verbreitet.


Typische Fehlannahmen

Motivation

Wie schon in der Einleitung erwähnt reden mehr geistes- oder sozialwissenschaftliche geprägte bzw. mehr naturwissenschaftlich geprägte Debattenteilnehmer oft aneinander vorbei. Die folgenden Abschnitte beschreiben einige gegenseitige Fehlannahmen bzw. Fehlverständnisse, die nach meinem Eindruck häufig vorkommen.


Die "volle" Wahrheit vs. Modelle der Realität

Die Naturwissenschaften erheben den Anspruch, mit ihren Modellen "wahre" Aussagen über die Realität zu machen, also zu beschreiben, wie sie wirklich ist. Die Naturwissenschaften erheben nicht den Anspruch, mit ihren Modellen folgendes zu erklären:
  • warum die Realität so ist, wie sie ist,
  • ob es einen Sinn hat, daß die Realität so und nicht anders ist, und wenn ja, welchen,
  • ob die Realität gut, schlecht, erstrebenswert oder wie auch immer zu beurteilen ist,
  • wie es (historisch) dazu kam, daß die Realität so ist.
Der letzte Punkt ist besonders auffällig: Naturgesetze sind keine Aussagen über die Vergangenheit, sondern Prognosen zu Phänomenen, die in der Zukunft eintreten werden. Thesen wie die Urknall-Theorie gelten als induktiv begründete, plausible Theorien, nicht als gesichertes Wissen und nicht als Naturgesetze, und sind offensichtlich nicht falsifizierbar.

Speziell die Philosophie beschäftigt sich auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis mit genau diesen Fragen und versteht unter "Wahrheit" oder "Realität" vor allem diese Aspekte. Ein öfter zu beobachtender Argumentationsfehler besteht darin, den philosophischen Wahrheitsbegriff und den damit verbundenen Anspruch den Naturwissenschaften zu unterstellen und dann triumphierend festzustellen, daß dieser Anspruch nicht erfüllt wird.

Daß die naturwissenschaftliche Modelle nicht den Anspruch erheben, die "vollen" Wahrheit auszudrücken, macht außerdem der Modellbegriff explizit deutlich: Modelle sind sogar bewußte Vereinfachungen eines Originals, die nur hinsichtlich der modellieren Eigenschaften die Wahrheit über das Original wiedergeben.



Bedeutung von Sprache und Sprachverstehen bei der Formulierung von Wissen

In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird "Wissen" fast immer in natürlicher Sprache formuliert, häufig sogar in längeren textuellen Darstellungen. Darin benutzten Begriffe sind oft nicht präzise definiert und verschieden interpretierbar. Dies führt zu dem Problem, diese Texte richtig zu verstehen, und zur Frage, ob überhaupt ein einheitliches, nichtsubjektives Verständnis des Wissens möglich ist. In Debatten oder Lernprozessen werden diese Darstellungen oft noch verkürzt, was das Problem noch stark verschlimmert. Diese Probleme führen zu Begriffen wie der "Situativität bzw. Kontextabhängigkeit von Wissen".

In den Formalwissenschaften existiert dieses Problem nicht. Nicht umsonst gibt es den Begriff "mathematische Sprache" bzw. formale Sprache in der Informatik. Es handelt sich hier um nichtnatürliche Spezialsprachen, die eine sehr präzise Bedeutung haben, über die sich alle Wissenschaftler einig sind.

Die Naturwissenschaften benutzen ebenfalls sehr umfänglich entweder mathematische Notationsformen oder eigene Spezialsprachen mit einer exakten Bedeutung. Beispiel: das Ohmsche Gesetz wird üblicherweise durch die Gleichung R = U / I dargestellt. Zitat aus der Wikipedia: "Das ohmsche Gesetz postuliert folgenden Zusammenhang: Wird an ein Objekt eine elektrische Spannung angelegt, so verändert sich der hindurchfließende elektrische Strom in seiner Stärke proportional zur Spannung. Mit anderen Worten: Der als Quotient aus Spannung und Stromstärke definierte elektrische Widerstand ist konstant, also unabhängig von Spannung und Stromstärke." (Das Präsens ist als Futur zu lesen, das Gesetz macht eine Prognose!) Dieses Gesetz gilt für Objekte aus diversen elektrisch leitenden Materialien (z.B. diverse Metalle, aber nicht für Halbleiter) und nur bei konstanter Temperatur. D.h. eine vollständige Darstellung des Gesetzes macht genaue Angaben darüber, unter welchen Annahmen es gilt, und genaue Prognosen, welche Phänomene zu beobachten sein werden.

Über den Sinngehalt des Ohmschen Gesetzes sind sich daher alle Physiker und Elektroingenieure einig. Allgemeiner gesagt gibt in den Naturwissenschaften kein Problem, exakt zu verstehen, was andere Wissenschaftler behaupten.

Begriffe wie Situativität bzw. Kontextabhängigkeit von Wissen sind in den Formalwissenschaften völlig absurd und in den Naturwissenschaften, die oft mit einer Mischung aus formalen und natürlichsprachlichen Beschreibungen arbeiten, nicht nachvollziehbar. Durch die Verwendung von formalen Notationen besteht kein relevanter Interpretationsspielraum mehr.



Scheinbare Normativität von Naturgesetzen

Normativität ist ein zentrales Konzept in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Normen können u.a. sozial, ethisch oder rechtlich sein. In allen Fällen wird ein Wirkmechanismus unterstellt, der mehr oder weniger stark das (künftige) Verhalten von Menschen beeinflußt. Normen erlauben also auch Prognosen über das Verhalten von Menschen.

Naturgesetze machen ebenfalls Prognosen, sagen also Vorgänge in der Zukunft voraus. Sie sind aber nicht normativ sind in dem Sinne, daß sie eine Wirkung oder "Macht" ausüben oder einen Willen repräsentieren. Wenn niemand das Naturgesetz kennt, laufen die Vorgänge trotzdem genauso ab. Naturgesetze sind daher deskriptiv und nicht normativ.

Fast alle Naturwissenschaften befassen sich auch nicht mit dem Verhalten von Menschen und mit Prognosen darüber. Zu den wenigen Ausnahmen zählen die Psychologie, Verhaltensbiologie und Teile der Medizin. Diese Gebiete können aber nicht den Falsifikationismus nicht nutzen und unterscheiden sich daher methodisch deutlich von "normalen" Naturwissenschaften. Daher werden sie oft auch nicht zu den Naturwissenschaften gezählt, sondern eher zu den Sozialwissenschaften, oder werden als interdisziplinär angesehen.



Die Mathematik ist keine Naturwissenschaft

Die Mathematik wird sehr oft fälschlich zu den Naturwissenschaften gezählt, z.B. im Begriff "MINT-Fächer", weil mathematische Konzepte und Formeln in der Natur beobachtbare Phänomene abstrakt, also als Modell, darstellen und weil diese Aussagen ggf. falsifiziert werden können.

Eine mathematische Aussage ist z.B. "die Summe der Innenwinkel eines ebenen Dreiecks beträgt 180 Grad." Man findet nun in der Realität unzählige Gegenstände, an denen man diese Aussage bestätigt findet. Insofern könnte man diesen Satz als ein Modell der Realität ansehen bzw. real existierende Dreiecke als physische Manifestation dieses Satzes. Für die meisten mathematischen Sätze und Konzepte existieren aber gar keine physischen Ausprägungen. Beispielsweise ist unklar, ob die Zahl (überabzählbar) Unendlich irgendwo in der Realität wahrnehmbar ist. Eine simple Intervallschachtelung ist ein weiteres Beispiel: beliebig kleine Abstände oder elektrische Spannungen sind in der Realität nicht praktisch beobachtbar oder sogar undenkbar.

Die Mathematik, insb. die "mathematische Sprache" (also die kompakten Notationsformen), wird im Endeffekt nur als Instrument in den wirklichen Naturwissenschaften benutzt. Die Physik nutzt z.B. mathematische Notationsformen und Theorien zur Beschreibung von Magnetfeldern oder elektrischen Feldern (oft nur approximativ, s. Nachbemerkung unten). Die entsprechenden Formeln sind physikalische Aussagen, keine mathematischen.

Mathematisches Wissen hat auch keinen Prognosecharakter, sagt also nicht den Ausgang von Experimenten in der Natur voraus. Entgegen der häufigen Behauptung ist daher der Falsifikationismus keine in der Mathematik anwendbare Wissenschaftstheorie. In der Mathematik gilt eine Aussage (bzw. eine "Vermutung") nicht als korrekt, solange sie nicht widerlegt ist.



Abbildungsfehler in mathematischen Formeln

Mathematik ist wie schon erwähnt eine Basiswissenschaft, d.h. mathematische Konzepte und Theorie werden benutzt, um diverse Phänomene darzustellen und zu analysieren. Die Mathematik wird also als Werkzeug in anderen Wissensgebieten benutzt. Hierbei treten oft Abbildungsfehler dergestalt auf, daß die mathematischen Aussagen die Realität nur approximativ beschreiben.

Beispiel: physikalische Größen

Mathematische Modelle physikalischer Phänomene suggerieren oft eine beliebig hohe Präzision, die in der Realität nicht vorhanden ist. Simple Beispiele sind räumliche Abstände oder elektrische Spannungen, deren Größe als reelle Zahl (+ Maßeinheit) angegeben wird. Reelle Zahlen können beliebig klein sein, z.B. ist 10-1000000 eine extrem kleine Größe, es ist völlig unklar bzw. vermutlich falsch, daß eine Spannung (Einheit: Volt) oder ein räumlicher Abstand (Einheit: Meter) dieser Größe existiert. Wenn also in physikalischen Aussagen Größen oder Größendifferenzen als reelle Zahlen angegeben werden, wird damit eine Präzision dieser Größen suggeriert, die i.a. nicht vorhanden ist. Man kann dies als einen "Abbildungsfehler infolge Benutzung mathematischer Konzepte" ansehen.

Das Problem wird übrigens nicht durch die technisch bedingten beschränkte Genauigkeit von Meßgeräten oder Meßfehler in Versuchsanordnungen von Experimenten verursacht, sondern ist prinzipiell. Die Heisenbergsche Unschärferelation ist ein bekanntes Beispiel dafür, daß bestimmte physikalische Größen prinzipiell nicht beliebig genau bestimmbar sind. Der Meßfehler von Meßgeräten - daß z.B. Größen nur auf 4 - 5 Dezimalstellen genau gemessen werden können - ist ein davon unabhängiges Problem. Dieser technische Meßfehler ist in den meisten Fällen allerdings sehr viel größer als der prinzipielle Abbildungsfehler und überdeckt diesen.

Pragmatisch gesehen ist die Nutzung reeller Zahlen für physikalische Größen trotz des prinzipiellen Abbildungsfehlers richtig. Die Alternative wäre, daß Physiker ein anderes Konzept von numerischen Größen entwickeln, das die beschränkte Genauigkeit, mit der sich die Größen bestimmen lassen, irgendwie berücksichtigt (ggf. abhängig vom physikalischen Phänomen). Diesem Aufwand steht kein erkennbarer Nutzen gegenüber, d.h. obwohl die Nutzung mathematischer Konzepte zu einem prinzipiellen Abbildungsfehler führt, beeinträchtigt dieser die Prognosegenauigkeit der Modelle nicht.

Wesentlich gravierendere Folgen hat der prinzipielle Abbildungsfehler durch Nutzung mathematischer Konzepte allerdings in der empirischen Sozialwissenschaft. Dort werden diverse Verfahren der Deskriptiven Statistik eingesetzt, um z.B. statistische Eigenschaften in menschlichen Populationen darzustellen. Generell werden hierbei viele Einzeldaten zu Durchschnitten aggregiert. Derartige Aggregationen sind eine stark vergröberte Darstellung der Realität, die u.U. keine Aussagekraft mehr hat - daher auch der Begriff "Unstatistik" oder fake-Stastitik. Ein bekanntes Beispiel für eine solche Unstatistik ist der Kampfbegriff "Gender Pay Gap".