Samstag, 15. August 2020

Der Plagiatsfall Koppetsch und die Wissenschaftlichkeit der Gender Studies


In den Zeiten von COVID-19 erregen Wissenschaftsskandale, wenn sie nicht gerade einen Virologen betreffen, wenig Aufmerksamkeit. Das dürfte der Grund sein, warum einer der größten Wissenschaftsskandale in der deutschen Forschungslandschaft in den letzten Jahren fast keine Resonanz in den Medien fand. Vordergründig handelt es sich ferner "nur" um einen Plagiatsfall, denn Plagiate brachten den Fall ins Rollen. Die eigentliche Bedeutung des Falls liegt aber bei der Frage nach den wissenschaftlichen Standards in den Gender Studies. Der offizielle Untersuchungsbericht zu dem Fall bestätigt deutlich die dahingehenden, seit Jahren geäußerten Zweifel.
Der Fall Cornelia Koppetsch
Cornelia Koppetsch ist seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls mit der Denomination Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung am Institut für Soziologie der TU Darmstadt. Der Lehrstuhl gehört zu den rund 200 deutschsprachigen Genderprofessuren, s. Datenbank der Genderprofessuren. Gemessen an den publizistischen Erfolgen zählt Koppetsch mit Sicherheit zu den oberen 10% der Genderprofessuren. Laut Simone Schmollack ist Koppetsch eine der wichtigsten Kennerinnen der Geschlechtersoziologie (Geschlechtersoziologie ist ein zentraler Bereich der Gender Studies, wenn nicht sogar damit identisch).

Koppetsch veröffentlichte Mitte 2019 das Buch Die Gesellschaft des Zorns, das den Aufstieg der neuen Rechtsparteien mit den Verlierern des kulturellen, ökonomischen und politischen Wandels der letzten Jahrzehnte - gemäß den herrschenden Narrativen also vorwiegend Männern - erklärt. Es wurde im Frühsommer 2019 von so gut wie allen deutschsprachigen Feuilletons bejubelt. Kurz danach wurden allerdings Plagiatsvorwürfe publik, die zu einer zweiten, "durchgesehenen und korrigierten" Auflage führten, die die Vorwürfe allerdings nicht zum Verstummen brachte. Der Fall eskalierte dann, als das Buch für den Bayerischen Buchpreis nominiert wurde, man Koppetsch eine Rücknahme der Nominierung nahelegte, Koppetsch die Vorwürfe i.w. abstritt und die Jury dann selber das Buch in letzter Minute aus dem Wettbewerb entfernte.

Da die Plagiate inzwischen gut dokumentiert waren, nahm der Verlag das Buch aus dem Handel. In der Vorweihnachtszeit schwappte dann eine Welle von Artikeln zu diesem Fall durch die Presse, von denen einige die fehlenden Quellenangaben damit entschuldigten, daß ein Sachbuch, das für ein breites Leserpublikum geschrieben ist, nicht unbedingt jede einzelne Quelle minutiös angeben muß.

Der Skandal führte als Nebeneffekt dazu, daß das 2013 erschienene Buch von Koppetsch Die Wiederkehr der Konformität ebenfalls auf Plagiate untersucht wurde. Man wurde auch dort in einem Ausmaß fündig, das den hier betroffenen Verlag veranlaßte, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Weiterhin beauftragte die TU Darmstadt eine interne Kommission mit der Untersuchung des Falls.

Der Untersuchungsbericht der TU Darmstadt
Am 11.08.2020 veröffentlichte die TU Darmstadt eine 6-seitige Zusammenfassung des Berichts der Untersuchungskommission.

Optisch fallen an dem Bericht zunächst die zahllosen Gendersterne auf, die keinerlei Zweifel an der feministischen Grundhaltung der TU zulassen und insofern auch eine antifeministische Voreingenommenheit beim Untersuchungsgegenstand definitiv ausschließen. Für Leser, die von den Gendersternen Augenschmerzen bekommen, findet sich hier eine augenschonende Version in amtlicher Rechtschreibung.

Die Kommission untersuchte die beiden schon genannten Bücher von Koppetsch sowie vier Aufsätze, deren bibliographische Daten nicht angegeben werden. Sie kommt zu einem unmißverständlichen Urteil:

Die dokumentierten, ungekennzeichneten oder missverständlich nachgewiesenen Übernahmen und Verwertungen fremder Textpassagen stellen in Qualität und Umfang einen gravierenden Verstoß gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis dar.

Das Lagebild weist auf eine durchgehend verfehlte Arbeitsweise von C. Koppetsch hin. .....

Es ist in hohem Maße unwahrscheinlich, dass die gelisteten Verstöße gegen die Regeln der Zitatkennzeichnungen und des Umgangs mit Literatur, das Weglassen von Nachweisen in übernommenen Stellen sowie die vielfach inhaltsneutralen Wortlaut-Veränderungen von übernommenen Stellen gänzlich unabsichtlich (i.S.v. 'versehentlich') geschehen sind. .....

Auch wenn der Untersuchung nur wenige wichtige Werke von Koppetsch zugrundeliegen, ist diese Beurteilung eine komplette Demontage der wissenschaftlichen Reputation von Koppetsch, geschrieben von Autoren bzw. Insidern, die wissen, was dieser Text bedeutet.
Die wissenschaftspolitische Brisanz des Berichts
Der Bericht bestätigt zum einen die bekannten Plagiatsvorwürfe. Nun sind Plagiierungen "nur" ein Diebstahl geistigen Eigentums, ggf. auch Erschleichung von Einnahmen aus Buchverkäufen. Sie sind aber inhaltlich, wenn die plagiierte Quelle selber korrekt ist, keine Fehler. In diesem Kontext ist die eigentlich viel brisantere Aussage des Gutachtens folgende Passage (Hervorhebung von mir):
Schließlich bleibt auch das Verhältnis zur Empirie, auf welche C. Koppetsch in ihren Schriften aufsetzt, unklar. In Die Wiederkehr der Konformität (2013) fehlen, wo ausdrücklich eigene empirische Daten herangezogen werden, Angaben zur Fallauswahl, zum Befragungsinstrument und zur Auswertungsmethode. Dieses Fehlen verhindert, die methodische Herangehensweise und Verlässlichkeit beurteilen zu können. Auch diese mangelnde Dokumentation entspricht nicht guter wissenschaftlicher Praxis. In Die Gesellschaft des Zorns setzt sich diese Arbeitsweise fort. Das Buch enthält keine Verweise auf eigene oder von anderen erstellte empirische Forschungen, deren Ergebnisse in die Argumente und Interpretationen eingegangen sind. Gleichwohl haben auch hier laut Aussagen von Koppetsch gegenüber der Kommission Ethnographien und Lehrforschungsprojekte Eingang gefunden, weswegen es fachlich unerlässlich gewesen wäre, das Vorgehen genauer zu dokumentieren und die gewonnenen Daten kritisch daraufhin zu reflektieren, wie belastbar sie sind. ... Vor allem fällt eine Gemeinsamkeit mit den Plagiaten auf: ein äußerst sorgloser Umgang zum einen mit Texten und Ideen anderer, zum anderen mit eigenen empirischen Daten.
Unter "Lehrforschungsprojekten" dürften von Studenten verfaßte Seminar-, Haus-, Studien- oder Bachelor-Arbeiten zu verstehen sein, die in kleinem Umfang empirische Forschung betreiben. Die in solchen Lehrforschungsprojekten gewonnenen Daten sind - ohne die Leistungen der Studenten im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten herabsetzen zu wollen - unbedingt kritisch daraufhin zu reflektieren, wie belastbar sie sind. Ferner werden so erhobene Daten noch schlechter als in großen Projekten erhobene Daten dokumentiert und archiviert, sind also später nicht mehr auffindbar und überprüfbar. Sie sind daher grundsätzlich ungeeignet als Begründung wissenschaftlicher Aussagen.

Die Qualität der wissenschaftlichen Argumentationen wird auch von dem Plagiatsexperten Gerhard Dannemann in einem Interview des Deutschlandfunks angezweifelt:

Koppetsch habe Aussagen verwendet und diese aus historischen Kontexten in andere Zusammenhänge übertragen, sodass diese dann nicht mehr so haltbar waren.
Die Argumentationen in den Studien von Koppetsch sind also zum Teil nicht haltbar und die damit "bewiesenen" Aussagen sind ggf. nicht zutreffend. Diese Feststellungen haben eine ganz andere Qualität als der Diebstahl geistigen Eigentums. Wenn die Kommission einen flächendeckenden äußerst sorglosen Umgang ... mit eigenen empirischen Daten moniert, dann sind wir ziemlich genau bei dem immer wieder geäußerten Vorwurf an die Gender Studies, interessengetriebene Pseudowissenschaft zu betreiben.
Wissenschaftspolitische Bedeutung des Falls
Der Fall Koppetsch fügt sich nahtlos in die vielen anderen Wissenschaftsskandale der Gender Studies ein. Während es dort aber meist "nur" um einzelne Papiere und weniger bekannte Autoren geht, geht es hier um eine der wichtigsten Kennerinnen der Geschlechtersoziologie und deren öffentlichkeitswirksamste Bücher.

Es wirkt schon fast peinlich, darauf hinzuweisen, daß die Soziologie seit gut einem Jahrzehnt mit einer gravierenden Glaubwürdigkeits- und Replikationskrise kämpft - wenn empirische Untersuchungen überhaupt nicht dokumentiert werden, braucht man über deren Replikation gar nicht erst nachzudenken.

Man fragt sich auch, wieso die offenbar gravierenden Mängel in dem 2013 erschienenen, durchaus erfolgreichen Buch rund 7 Jahre lang nicht bemerkt wurden. Man kann dies als weiteres Indiz dafür werten, daß die Gender Studies und Teile der Soziologie nicht über ein wirksames Qualitätssicherungssystem verfügen.

Man darf gespannt sein, ob und wie der Fall Koppetsch die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung der Gender Studies in Deutschland beeinflussen wird. Diese Wissenschaftsevaluation wurde von der Hamburger Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung Katharina Fegebank (Grüne) beantragt, vermutlich um dem verbreiteten Eindruck entgegenzuwirken, die Gender Studies dienten als Kaderschule für die Grünen und andere feministische Parteien. Die Kommissionen des Wissenschaftsrats bestehen großenteils aus Vertretern der Bundes- und Landesregierungen, d.h. der Wissenschaftsrat hat die delikate Aufgabe, die Wissenschaftspolitik seiner "Auftraggeber" zu beurteilen. Genaugenommen kennt man die Empfehlungen schon jetzt: Kai Gehring, Sprecher für Forschung, Wissenschaft und Hochschule der Grünen, hat das Ergebnis bereits verkündet, als die Untersuchung gerade beschlossen wurde: Der Wissenschaftsrat kann laut Gehring nur eine "Stärkung der Geschlechterforschung" empfehlen, denn "hierzulande wird Geschlechterforschung auf Spitzenniveau betrieben". q.e.d.

Quellen