Die feministische Privilegientheorie

Inhaltsübersicht

Merksätze

  1. Die Privilegientheorie ist eine zentrale theoretische Grundlage des modernen Feminismus im Sinne eines Denk- bzw. Argumentationsmusters, das in Debatten immer wieder strukturell identisch auftritt, z.B. im Slogan "Check Your Privilege".
  2. Der Begriff "Privileg" wird hierbei völlig pervertiert, insofern geht es hierbei auch um die Etablierung von "Privileg" als feministischem Kampfbegriff.
  3. Die Privilegientheorie verallgemeinert das feministische Dogma, daß Männer in dem Patriarchat, das angeblich überall herrscht, alleine durch ihr Geschlecht bevorzugt sind und ungerechte Privilegien genießen (male privilege), auf beliebige andere "Privilegien", die z.T. frei erfunden sind, z.B. gesund, schön, weiß, heterosexuell usw. zu sein
  4. Die Privilegientheorie ist im Kern eine Verhaltensvorschrift und eine Methode der Rechtsschöpfung (also Erzeugung von rechtlichen Ansprüchen); in diesem Sinne besteht sie aus folgenden wesentlichen Schritten:

    1. Eine dazu befugte Instanz (typischerweise meinungsstarke Feministinnen in medialen Machtpositionen) stellt fest, daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, z.B. Männer, ein Privileg besitzt. Als Konsequenz erhält damit die alternative Gruppe einen Opferstatus.
    2. Jeder Privilegierte, also jedes Mitglied dieser Gruppe, ist verpflichtet, sich seines Privilegs bewußt werden und sein Privileg einzugestehen.
    3. Der Privilegierte muß sein Privileg als soziales Unrecht erkennen.
    4. Der Privilegierte muß selber das Unrecht beseitigen.
  5. Die Instanz, die festlegen darf, welche Personen bzw. Bevölkerungsgruppe privilegiert und damit zur Beseitigung des "Unrechts" verurteilt ist, kann dies völlig willkürlich tun. Sie hat einen Status vergleichbar einem Diktator oder Monarchen.
  6. Die Privilegientheorie steht in krassem Gegensatz zum Grundgesetz und zu demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien.


Einordnung der Privilegientheorie und Übersicht über diese Seite

Die Grundzüge der Privilegientheorie, insb. die Methode zur Generierung von Rechten (bzw. Ansprüchen) wurden bereits vorstehend grob skizziert. Diese grundsätzlichen Denkmuster sind sehr alt, ein Beispiel ist McIntosh (1989), das im Kontext von ethnischen Konflikten zwischen Schwarzen und Weißen entstand. In den 1990er und 2000er Jahren wurden die Denkmuster dann explizit als "Privilegientheorie" bezeichnet. Verbreitet und praktiziert wurde die Theorie damals vor allem in radikalfeministischen Kreisen. Die Konzepte haben sich inzwischen - oft in leicht verwässerter oder kaschierter Form - sehr weit verbreitet.

Verkauft wurde die Privilegientheorie von ihren feministischen Protagonisten (z.B. Laurie Penny) unter den Deckmantel, ungerechtfertigte Privilegien abbauen zu wollen. Faktisch handelt es sich bei dieser Theorie aber um ein System, das den Personen, die die Definitionshoheit darüber haben (wollen), was "Privilegien" sind, eine enorme autoritäre Macht verleiht, die keine sachliche Begründung hat und die durch keinerlei Maßnahmen gegen Mißbrauch abgesichert wird. Im Endeffekt soll hierdurch eine autoritäre feministische Führungselite etabliert werden, die in krassem Gegensatz zu den Prinzipien des Grundgesetzes und der Rechtsstaatlichkeit steht.

In den folgenden Abschnitten gehen wir genauer auf diverse Details ein, insb. auf

Die Privilegientheorie ist inhaltlich eng verwoben mit weiteren Phänomenen wie Opferstatushierarchien, Intersektionalismus und Identitätspolitik, auf diese Querbezüge gehen wir weiter unten ein.


Die Definition von Privilegien und die Verschiebung des Begriff des "Privileg"

Wir befassen uns zunächst mit dem ersten Schritt der Privilegientheorie: Eine dazu befugte Instanz, z.B. die Meinungsführer in einer sozialen Bewegung, stellt fest, daß eine bestimmte Bevölkerungsgruppe privilegiert ist, z.B. Männer gegenüber Frauen, Weiße gegenüber Schwarzen.

Der Begriff Privileg bezeichnet im allgemeinen Sprachgebrauch ein Sonderrecht, das einer einzelnen Person oder kleinen Gruppe von Personen vorbehalten ist und der Person oder den Angehörigen dieser Gruppe einen Vorteil verschafft (der oft als ungerecht empfunden wird). Das Privileg kann ein formales Recht im juristischen Sinn sein, aber auch z.B. ein ererbtes Vermögen, das sich ebenso als Vorteil auswirkt wie ein Gesetz.

Abweichend davon ist ein Privileg im Sinne der feministischen Privilegientheorie ein Vorteil, den man aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe hat. Diese Gruppen werden i.d.R. anhand von biologischen Merkmalen gebildet, in Ausnahmefällen anhand von sozialen Merkmalen. Beispiele:

  • Nach feministischer Lesart sind Männer gegenüber Frauen in vieler Hinsicht privilegiert, u.a. weil sie angstfrei abends durch dunkle Straßen laufen, stärkere Muskeln haben, ihnen nicht ständig die Gefahr einer Vergewaltigung oder sexuellen Belästigung droht usw.
  • Weiße sind gegenüber Farbigen privilegiert,
  • Kinder reicher Eltern gegenüber Kindern armer Eltern,
  • gesunde Menschen gegenüber kranken,
  • behinderte gegenüber nichtbehinderten
  • schöne Menschen gegenüber häßlichen,
  • intelligente gegenüber dummen usw. usw.

Die Begriffsverschiebung beim Kampfbegriff "Privileg"

Es ist extrem wichtig, die Begriffsverschiebung zwischen der klassischen und der feministischen Definition zu erkennen:
  • Nach der klassischen Definition ist ein Privileg ein Gesetz oder eine soziale Struktur, die eine soziale Ungleichheit verursacht, z.B. ein Steuerprivileg für eine bestimmte Personengruppe. Das Privileg ist oft willkürlich und ungerechtfertigt und Ergebnis von Machtverhältnissen. Ein Privilegierter hat direkte persönliche Vorteile, z.B. materielle oder soziale.
  • Die feministische Definition geht von einer einer statistisch beobachtbaren sozialen Ungleichheit zwischen bestimmten Personengruppen aus, die i.d.R. anhand von biologischen und/oder in Ausnahmefällen sozialen Merkmalen gebildet werden. Der Vorteil eines Privilegierten besteht darin, der "besseren" Personengruppe anzugehören; ob er davon individuell direkt materiell oder auf andere Weise profitiert und ob die Mitgliedschaft auch Nachteile mit sich bringt, spielt keine Rolle.
Der feministische Begriff Privileg grenzt die privilegierte Personengruppe manchmal nicht genau ein, sondern bezieht sich nur noch auf eine beobachtete biologische oder soziale Ungleichheit. Ein Beispiel ist das "Privileg", reich oder gesund zu sein. Symptomatisch ist hier, daß als Bezeichnung für das Privileg ein Wert auf der Skala der Ungleichheit verwendet wird, nicht hingegen eine strukturelle Ursache der Ungleichheit oder eine Abgrenzung der profitierenden Personengruppe. Dieser Begriff Privileg macht nur noch in Aussagen wie "ein Privileg haben" Sinn und kann mit "im Vorteil sein" übersetzt werden.

In vielen Fällen wird ein Privileg mit einer (scheinbaren) sozialen Ursache für die Ungleichheit bezeichnet ("Lookismus", "patriarchale Zustände" o.ä. Verschwörungstheorien), ohne daß klar gesagt wird, was exakt die Ursache ist und worin die resultierende Ungleichheit bzw. der Vorteil konkret besteht. Oft ist strittig, ob die genannte soziale Ursache wirklich zu relevanten Vorteilen führt, z.B. beim Privileg, schön, intelligent oder Rechtshänder zu sein. Sofern man hier überhaupt von einer Analyse sozialer Strukturen reden will, könnte man dieser bestenfalls Stammtischniveau attestieren. Insb. ist die resultierende essentialistische Denkweise, jedes Mitglied der privilegierten Gruppe, z.B. jeder Weiße, habe individuell einen Vorteil gegenüber jedem Mitglied der nichtprivilegierten Gruppe, z.B. jedem Schwarzen, offensichtlich Unfug.

Imaginierte Privilegien von Mehrheiten

Eine besonders häufige beklagte "Privilegierung" besteht darin, zu einer Mehrheit in der Bevölkerung zu gehören. Beispielsweise sind ca. 96% der Bevölkerung heterosexuell, 3% homosexuell, der Rest verteilt sich auf sehr kleine Minderheiten. Mitgliedern dieser Minderheiten fällt ständig auf, daß sie nicht sind wie fast alle anderen, woraus letztlich ein deprimierendes Gefühl des Ausgeschlossenseins resultieren kann (und von interessierter Seite verstärkt wird). Den Mitgliedern der Mehrheit fallen umgekehrt die Minderheiten kaum auf, die Mitglieder der Mehrheit haben also nicht das deprimierende Gefühl, nicht normal zu sein. Die Mehrheit ist somit - in der feministischen Logik - automatisch gegenüber der Minderheit privilegiert. Umgekehrt ist die Minderheit aufgrund ihrer für Außenstehende nicht direkt sichtbaren Gefühle automatisch von der Mehrheit diskriminiert bzw. marginalisiert (s. Kampfbegriff "Marginalisierung").

Beanspruchung des Opferstatus

Offensichtlich erwirbt der Nicht-Privilegierte hier automatisch den Status eines Opfers. Da in heutigen Gesellschaften der Opferstatus zu diversen Privilegien führt, ist der Erhalt dieser Privilegien ein Hauptziel der Privilegientheorie. Auf die hierdurch entstehenden inneren Widersprüche und Kollateralschäden gehen wir später ein.

Zusammenfassung

In der Summe sind die Phänomene, die als Privileg definiert werden, völlig willkürlich, inhaltlich sehr unterschiedlich, meist nur vage unrissen und keine Privilegien im klassischen Sinn, die man i.a. zu recht ablehnen wird. Für den weiteren Verlauf der Dinge kommt es aber nur darauf an, daß bestimmte Personengruppen für die Diskurse und Machtverhältnisse festlegen können, daß die Privilegierten "ein Privileg" haben.


Generierung von Rechtsansprüchen

Die feministische Privilegientheorie ist eine Verhaltensvorschrift (für Männer) und Methode zur Generierung von Rechtsansprüchen (von Frauen). Die Methode ist grundlegend für die feministische Ideologie (und damit auch für alle feministischen "linken" Ideologien) und tritt in vielen leicht variierten Formen auf. Wir beschreiben i.f. die "unverdünnte" Variante, die Argumentationsstrukturen am besten klar macht.

Der erste Schritt, die Festlegung einer privilegierten Gruppe, wurde im vorigen Abschnitt beschrieben. Die eigentliche Generierung von Rechtsansprüchen vollzieht sich in folgenden Schritten:

  1. Der Privilegierte ist verpflichtet, sich seines Privilegs bewußt zu sein oder zu werden bzw. anders gesagt all seinen Mitgliedschaften in privilegierten Klassen. Den meisten rechtshändigen, gesunden, weißen Männern ist z.B. nicht bewußt, 4 privilegierten Klassen anzugehören.

    Die Feststellung, ob ein Privileg vorliegt, liegt im Ermessen des Nichtprivilegierten (vgl. auch das Definitionsmacht-Konzept), genauer gesagt im Ermessen der Person, die sich zum Nichtprivilegierten bzw. Opfer deklarieren kann (z.B. aufgrund eines mitleiderregenden Zustands oder einer medialen Machtposition). In der Praxis sind das nahezu ausschließlich Frauen, innerhalb der Gruppe der Frauen ggf. solche, die einen höheren Opferstatus haben, z.B. schwarze lesbische Frauen gegenüber weißen heterosexuellen.

    Der Privilegierte darf keine Begründung für die Feststellung verlangen, daß er ein Privileg habe. Dieser Anspruch wäre ein weiteres Privileg des Privilegierten und würde die Situation für den Nichtprivilegierten weiter verschlimmern und seine Leiden unerträglich steigern. Ferner kann es sein, daß die Benachteiligung nur subjektiv vom Nichtprivilegierten feststellbar ist (z.B. Angstgefühle), also nicht objektiv dargestellt werden kann, also blind geglaubt werden muß.

    Der Privilegierte darf sein Privileg nicht einfach ignorieren. Der Nichtprivilegierte hat einen (moralischen bzw. Rechts-) Anspruch darauf, daß sich der Privilegierte die Zeit nimmt, sich mit seinem Privileg zu befassen und es sich bewußt zu machen. (Analog dazu erwartet das Finanzamt vom jedem, der Geld verdient, sich über die diversen zu zahlenden Steuern zu informieren, und akzeptiert bei Nichtzahlung einer Steuer nicht die Ausrede, man habe von der Existenz dieser Steuer nichts gewußt.) Der Privilegierte hat aber keinen Anspruch darauf, vom Nichtprivilegierten erklärt zu bekommen, worin sein Privileg im Detail besteht (dies wäre eine besonders unmoralische supremacy-Haltung), sondern muß selber danach suchen und z.B. vagen Hinweisen auf eigene Privilegien systematisch nachgehen.

  2. Der Privilegierte muß das Privileg als Unrecht anerkennen, oft in diffuser Form als "ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse, die allen schaden und die beseitigt werden müssen". Dies auch dann, wenn das Privileg nur vage beschrieben ist.

    Darüber hinaus muß er jedem Mitglied der nichtprivilegierten Klasse das Recht zubilligen, als Mitglied dieser Klasse persönlich den Status eines Opfers einzunehmen und damit verbundene Vorteile zu erlangen.

    Zynismus (lieber reich und gesund als arm und krank), also Leugnung des Unrechts, oder ein Hinterfragen, ob wirklich ein Vorteil oder ein Unrecht vorliegt und in welchem Zusammenhang es zu relativieren ist, sind untersagt. Derartige Einwände gelten als moralisch doppelt verwerflich: 1. wird ein ungerechter Vorteil ausgenutzt und 2. dies sogar im vollem Bewußtsein, ein Unrecht zu begehen.

    An dieser Stelle wird oft eine trickreiche Unterscheidung zwischen einem diffusen gesellschaftlichen Unrecht und persönlicher Schuld eingeführt (bzw. von feministischen Ratgebern als Diskussionsstrategie empfohlen): Beispielsweise wird man nicht in böser Absicht als Mann geboren, sondern es ist einfach so, man(n) ist also im konventionellen Rechtssinn nicht persönlich schuld an seinem Geschlecht. Trotzdem ist man als Mann, vergleichbar mit der Erbsünde bzw. Sippenhaft, automatisch und unausweichlich am kollektiven Unrecht gegenüber den Frauen beteiligt.

  3. Es ist die Pflicht des Privilegierten, das Unrecht zu beseitigen, weil er in der bevorteilten Position ist. Dies wird oft als "die Verantwortung übernehmen" bezeichnet, analog zur Situation, daß man irgendwo einen Schaden verursacht hat und dann verantwortlich für die Behebung des Schadens ist.

    Außerdem ist der Privilegierte persönlich dafür verantwortlich, das Unrecht zu beseitigen, auch wenn dieses nur zwischen den Klassen besteht und er persönlich nicht direkt involviert ist, er es also gar nicht beeinflussen kann.

    Der Nichtprivilegierte muß nichts tun, außer ggf. den Privilegierten auf sein Privileg bzw. seine Klassenzugehörigkeit aufmerksam zu machen (daher wird das "male privilege" ständig in feministischen Texten betont), sofern dieser in Schritt 1 versagt hat, sich sein Privileg selber bewußt zu machen.

    Der Nichtprivilegierte hat einen (moralischen bzw. Rechts-) Anspruch darauf, daß sich der Privilegierte um die Beseitigung des "Unrechts" kümmert, auch unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile. In feministischen Ratgebern zur Verbreitung der Privilegientheorie wird häufig auf die hier zu erwartenden inneren Widerstände (oder den zu befürchtenden gesunden Menschenverstand) hingewiesen und empfohlen, es als moralisch besonders verwerflich zu brandmarken, ungerechtfertigte Vorteile nicht aufgeben zu wollen (womit von der eigentlichen Frage abgelenkt wird, ob dieser Beseitigungsanspruch überhaupt gerechtfertigt ist).

    Der Privilegierte hat aber keinen Anspruch darauf, vom Nichtprivilegierten beraten zu werden, wie er das Unrecht beseitigt, sondern muß selber nach Lösungen suchen. Welche Maßnahmen der Nichtprivilegierte als ausreichend zur Beseitigung des Unrechts ansieht, liegt allein in seinem Ermessen. Solange er mit den Maßnahmen nicht zufrieden ist, wird er die Feststellung des Privilegs nicht zurücknehmen, also den Privilegierten nicht aus seiner Pflicht bzw. "Verantwortung" entlassen.

    Beispiel: Männer haben mehr Interesse an Politik (z.B. aus biologischen Gründen: mehr Testosteron), treten deswegen häufiger in Parteien ein und kandidieren häufiger für Ämter, haben also als Klasse das unverdiente Privileg, durch ihr Engagement die Mehrheit der Parteimitglieder zu bilden. Jeder einzelne Mann muß also nachdenken, ob er es moralisch verantworten kann, in eine Partei einzutreten oder für ein Amt zu kandidieren, weil er dadurch das "Unrecht" vergrößert, daß Frauen dort unterrepräsentiert sind. Dazu passend fordern Feministinnen Männer regelmäßig dazu auf, nicht für Parteiämter zu kandidieren, um Frauen den ihnen zustehenden Raum zu lassen. (Wegen der notorischen Unzuverlässigkeit von Männern bei dieser Pflichterfüllung haben feministische Parteien Frauenquoten in den Wahllisten für Parteiämter.)

    Die ggf. im Schritt 2 eingeführte Unterscheidung zwischen einer als ungerecht empfundenen sozialen Ungleichheit und persönlicher Schuld wird hier heimlich fallengelassen und stellt sich als geschickte rhetorische Finte heraus: Die Pflicht zur Beseitigung des Unrechts kommt einer Verurteilung und Bestrafung gleich, ohne daß die Schuld des Täters explizit festgestellt und ohne daß ein Strafmaß explizit verkündet wird. Der Begriff Strafe wird geschickt umgangen, weil der Privilegierte sich seine Strafe selber ausdenken muß. Faktisch bestimmt aber der Nichtprivilegierte das Strafmaß, da er frei darüber entscheiden kann, ob die selbstauferlegte Strafe angemessen ist oder nicht.

Der dritte Schritt, die Selbstbestrafung des Privilegierten, wird in vielen Darstellungen der Privilegientheorie ausgelassen oder nur vage angedeutet, oder es wird nur an diffuse Gerechtigkeitsgefühle appelliert. Beim üblichen Rechtsverständnis wäre nämlich automatisch klar, daß man allenfalls als direkt Beteiligter und Mitverursacher an einem Unrecht für dessen Beseitigung verantwortlich ist. Wenn man diesen eigentlich entscheidenden Schritt detailliert darstellt, bemerken zu viele Leute, daß sie für dumm verkauft werden.


Die Opferstatus-Doktrin

Wenn man in dem Verfahren zur Generierung von Rechtsansprüchen, das im vorigen Abschnitt dargestellt wurde, von einigen Details abstrahiert, ist es im Kern eine Logik bzw. politische Doktrin, wonach eine Gruppe, die einen Opferstatus für sich reklamieren kann, deswegen moralisch und diskurstechnisch über der komplementären Gruppe steht, ihr Vorschriften machen kann und von ihr kompensatorische Leistungen verlangen kann. Diese Logik wird u.a. als Opferkult, Opferkultur, Opferstatusolympiade, Opferstatushierarchie o.ä. bezeichnet.

Moralisch appelliert diese Doktrin an das Soziale und Mitleid: Personen, denen es schlecht geht, sollte unabhängig von der Frage, ob sie für ihren Zustand mitverantwortlich sind, ein Mindestmaß an Lebensqualität zukommen. Hieraus folgt eine moralische Verpflichtung, den Armen zu helfen. Diese Verpflichtung wird vielfach religiös begründet. Diese Verpflichtung erstreckt sich aber nur auf elementare Bedürfnisse, also die unteren Schichten der Bedürfnishierarchie.

Ganz ähnlich ist das Sozialstaatsprinzip in unseren Grundgesetz verankert (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28). Welche Leistungen an Bedürftige daraus folgen, muß vom Gesetzgeber entschieden werden. Der Staat muß jedenfalls allen Bürgern das "Existenzminimum" - ein dehnbarer Begriff - sichern.

Die Opferstatus-Doktrin als Perversion des Sozialstaatsprinzips

Vergleicht man nun die Privilegientheorie und die Opferstatus-Doktrin mit dem Sozialstaatsprinzip, fallen zwei markante Unterschiede auf:
  1. Beim Sozialstaatsprinzip wird im Rahmen der üblichen politischen Willensbildung darüber entschieden, welche Benachteiligungen, also Formen von Opferstatus, als gesellschaftlich relevant angesehen werden und welche Sozialleistungen diesen Gruppen zukommen. Bei der Privilegientheorie bzw. der Opferstatus-Doktrin entscheiden darüber autokratisch "die Opfer" bzw. deren selbsternannte, demokratisch nicht legitimierte Wortführer.
  2. Beim Sozialstaatsprinzip decken die Sozialleistungen i.d.R. elementare Bedürfnisse ab, z.B. Nahrung und Wohnraum, nicht hingegen Machtbefugnisse. Bei der Privilegientheorie bzw. der Opferstatus-Doktrin besteht das Ziel dagegen regelmäßig darin, daß Minderheiten antidemokratische Machtbefugnisse über die Mehrheit erlangen. Diese liegen oft im kulturellen Bereich, z.B. Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch politisch korrektes Sprechen und Denken.
In der Summe wird das moralische Prinzip der sozialen Hilfsbereitsschaft durch die Opferstatus-Doktrin völlig pervertiert: Das Opfer wird zum Herrscher über die komplementäre Gruppe der "Privilegierten".

Quellen



Grundgesetzwidrigkeit der Privilegientheorie

Die feministische Privilegientheorie steht in eklatantem Gegensatz zu Prinzipien des Grundgesetzes und des Rechtsstaats:
  • Es werden Kollektive gebildet, die Inhaber von Rechten sein können ("die Frauen", "die Dummen", "die Linkshänder"). Dies widerspricht direkt Art. 3 GG, wonach alle Menschen unabhängig von eventuellen Gruppenzugehörigkeiten rechtlich gleich zu behandeln sind.
  • Die Feststellung einer Privilegierung liegt völlig willkürlich im Ermessen der Personen, die die abstrakte Privilegientheorie auslegen dürfen, also aus feministischer Sicht immer bei den Frauen.

    Die Feststellung einer Nichtprivilegierung führt unmittelbar zur Festlegung von (informellen oder ggf. formellen) Ansprüchen der Nichtprivilegierten an die Privilegierten. Wegen dieser Erzeugung von Rechtsansprüchen ist die Feststellung einer Nichtprivilegierung vergleichbar mit der Verabschiedung eines Gesetzes. In einer Demokratie ist der Erlaß von Gesetzen aber alleine der demokratisch gewählten Volksvertretung vorbehalten. Daß einzelne Personen faktisch nach Gutdünken Verhaltensregeln und Gesetze ohne gesellschaftliche Diskussion bzw. parlamentarische Kontrolle erlassen können, ist Wesensmerkmal von Monarchien und totalitären Systemen und unvereinbar mit demokratischen Prinzipien.

  • Moderne demokratische Staaten praktizieren Gewaltenteilung: die drei Gewalten Gesetzgebung (Legislative), Vollziehung (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) sind strikt getrennt. Die rechtsprechende Gewalt wird durch unabhängige Richter ausgeübt, die insb. unbefangen sein müssen, also nicht selber in einen Streitfall verwickelt sein dürfen.
    Die Privilegientheorie hebt diese Trennungen auf: Die Nichtprivilegierten können gleichzeitig die Rolle des Gesetzgebers und Richters spielen.
    Wesentlich gravierender ist, daß sie im konkreten Streitfall die Rolle des Anklägers und Richters in Personalunion übernehmen.
  • Als Privileg deklarierten Tatbestände sind vielfach nur Wahrnehmungen von Grundrechten, z.B. freie Meinungsäußerung, Kandidatur für Ämter oder Vertretung eigener Interessen. Die erwartete Beseitigung des Unrechts besteht regelmäßig darin, auf die Wahrnehmung von Grundrechten zu verzichten. Die Privilegientheorie zielt daher regelmäßig darauf ab, Grundrechte (i.d.R. für Männer) außer Kraft zu setzen.
  • In einem Rechtsstaat kann man nur für etwas bestraft oder zur Verantwortung gezogen werden, das man selber durch eigene Entscheidungen verursacht hat, für das man also die persönliche Schuld trägt. Man kann nicht dafür bestraft werden, Rechtshänder, Mann oder gesund zu sein. Man trägt auch nicht persönlich die Verantwortung für alles Unheil, das irgendwo auf dieser Welt passiert.
    Man kann nicht zu irgendetwas verpflichtet werden, indem ein Dritter nach Gutdünken gesellschaftliche Klassen definiert, diese Klassen als verantwortlich für bestimmte Zustände deklariert und alle Mitgliedern dieser Klasse bestimmte Verantwortungen oder Strafen auferlegt.
Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, daß in feministischen Diskursen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit angegriffen und als patriarchaler Unterdrückungsmechanismus angesehen wird ("... Rechtsstaatlichkeitsprinzip, der Aufklärung und all dem Rotz, der von weißen europäischen Männern in mächtigen Positionen erfunden wurde, um ihren Besitzstand zu wahren"). Faktisch stellen diejenigen, die die Definitionshoheit darüber haben (wollen), was Privilegien sind, eine autoritäre, antiemanzipatorische, monarchische Führungsschicht dar bzw. würden es gerne sein.

Der Vollständigkeit halber kann man noch erwähnen, daß die völlige Willkür, mit der selbst erarbeitete Vorteile als Privileg umgedeutet und annulliert werden können, jede Art von Konkurrenz und Streben nach Vorteilen sinnlos macht. Dies steht wiederum im krassen Gegensatz dazu, daß unsere komplette Gesellschaft, die Marktmechanismen, die darwinistische Evolution und nicht zuletzt das Verhalten des Feminismus darauf zielt, Vorteile für sich oder die eigene Gruppe zu erringen.



Der innere Widerspruch

Die Privilegientheorie wurde zunächst nur dazu entwickelt, feministische Ansprüche zu bestätigen und die feministischen Deutungshoheit sicherzustellen. Sie ist eigentlich nur dazu gedacht, zugunsten von Frauen verwendet zu werden. Dargestellt wird diese Intention natürlich nicht, weil dies den vordergründig formulierten Gerechtigkeitsanspruch sofort widerlegen würde.

Sofern man die Theorie wörtlich nimmt, also als uneingeschränkt anwendbar ansieht, führt dies sofort zu einem inneren Widerspruch. Konkret kann man leicht zeigen, daß die Privilegientheorie es verbietet, die Privilegientheorie anzuwenden, und zwar folgendermaßen:

  1. Personen A und B sind Mitglieder verschiedener soziale Klassen. Person B erklärt Person A als privilegiert.
  2. Person B zwingt damit Person A, ihr Privileg aufzugeben oder der Person B kompensierende Privilegien einzuräumen.
  3. Die Privilegientheorie anwenden zu können war somit ein Privileg von Person B, das ihr aufgrund der Klassenzugehörigkeit signifikante Vorteile eingebracht hat. Dieses Privileg von B wird eventuell von A sogar als größer eingeschätzt werden als das unterstellte eigene Privileg.
  4. Person A darf daher ihrerseits dieses Privileg bei Person B feststellen und zwingt mit Hinweis darauf Person B, ihr Privileg aufzugeben, also hier konkret die Privilegientheorie nicht mehr anzuwenden.


Kollateralschäden

Belohnung von Opferstatus

Die Generierung von Rechtsansprüchen mit der Privilegientheorie hängt eng zusammen einer allgemeineren Erscheinung in (Wohlstands-) Gesellschaften, der Belohnung von Opferstatus. Die Privilegientheorie kann als eine der wichtigsten Antriebskräfte dieser Entwicklung angesehen werden.

Personen oder Personengruppen, die einen politisch "anerkannten" Opferstatus errungen haben, haben Anspruch auf gesellschaftliche Fürsorge, u.a. materielle, rechtliche oder soziale Wohltaten und symbolisches Kapital. Mit letzterem ist gemeint, daß Opfer in den politischen Diskursen einen Heiligen-Status haben, also moralisch höherwertig sind und nicht kritisiert oder hinterfragt werden dürfen, auch hinsichtlich der Eigenverantwortung für ihren Zustand.

Ob man den Opferstatus erreicht, hängt weniger vom tatsächlichen Zustand dieser Personen (vor allem im Vergleich zu anderen, die ebenfalls Not leiden) ab, sondern von der Aufmerksamkeitssteuerung der dominierenden Medien. Daß es z.B. weniger Frauen als Männer in DAX-Vorstände schaffen, betrifft nur eine elitäre Gruppe von wenigen 100 Frauen, die ohnehin den oberen 1 % angehören. Deren entsetzliches Leiden ist heute ein wichtigeres politisches und soziales Problem als die hohe Selbstmordrate bei Männern.

Die mit dem Opferstatus verbundenen Privilegien sind ggf. so attraktiv, daß die Energien vor allem dafür investiert werden, den Opferstatus in der öffentlichen Wahrnehmung zu erlangen oder zu vergrößern, z.B. durch zahllose feministische Twitter-Kampagnen). Dies führt zu dem perversen Gesamteffekt, daß Opferstatus-basierte Ideologien wie der Feminismus offiziell den Opferstatus beklagen, faktisch aber diesen Opferstatus zu erstrebenswerten Ideal machen und alles unternehmen, diesen Opferstatus zu erhalten und die Ursachen nicht zu beseitigen.

Intersektionalismus und Opferstatushierarchien

Der Begriff Intersektionalität drückt aus, daß eine Person einen mehrfachen Opferstatus haben kann und daß sich die jeweiligen Nachteile nicht einfach addieren, sondern auf spezielle Weise zusammenwirken können. Unter Intersektionalismus sei i.f. die politische Strategie verstanden, Personen mit mehrfachem Opferstatus einen besonders hohen sozialen Status einzuräumen, also Opferstatushierarchien zu bilden.

Historisch waren es vor allem schwarze Frauen, die innerhalb der feministischen Bewegung einen Opferstatus und damit verbundene Privilegien gegenüber den dominierenden weißen Feministinnen verlangten - dies ist eine logische und konsequente Fortsetzung der Opferstatus-Denkweise von Frauen gegenüber Männern. Später kamen immer kleinere sexuelle Randgruppen, Behinderte u.a. hinzu, die einen eigenen zusätzlichen Opferstatusbonus verlangten.

Im Endeffekt führt der Intersektionalismus zu einer Zersplitterung in immer kleinere identitäre Gruppen, die sich in mindestens einem opferstatusrelevanten Merkmal unterscheiden und somit von einer Seite als privilegierte Unterdrücker wahrgenommen werden.



Vertiefende Literatur