Samstag, 12. Dezember 2020

Der Fall Keira Bell


In Großbritannien ist vor einigen Tagen ein wegweisendes höchstrichterliches Urteil dazu ergangen, ob Minderjährige faktisch mit einer Eigendiagnose feststellen können, eine Geschlechtsidentitätsstörung ("gender dysphoria") zu haben bzw. transident (transsexuell) zu sein und auf dieser Basis veranlassen können, Pubertätsblocker und später fast automatisch eine geschlechtstransformierende Behandlung zu bekommen. Das Urteil hat diese bisher übliche und immer häufiger werdende Praxis scharf gerügt und unter den Vorbehalt einer richterlichen Erlaubnis gestellt, also mehr oder weniger verboten.

Dieses Urteil ist diametral entgegengesetzt zu Bestrebungen von B90/Grüne und anderen Feministen hierzulande, die sexuelle Identität als Diskriminierungsmerkmal in Art. 3 GG zu ergänzen und schon 14-Jährigen das Recht zu garantieren, ihren Personenstand gemäß ihrer verspürten sexuellen Identität autonom bestimmen zu können. Der Begriff Geschlecht im Grundgesetz bezog sich bisher auf das biologische Geschlecht, er würde faktisch ersetzt werden durch einen Geschlechtsbegriff, der sich auf eine eher unklar definierte sexuelle Identität bezieht.

Die Bedeutung des Urteils im Fall Keira Bell geht weit über die eher technisch klingende Frage hinaus, ob jemand erst mit 16 oder schon mit 14 selbständig über eine solche Behandlung entscheiden darf. Die Anhörungen der Prozeßparteien förderten massive Verletzungen sonst üblicher medizinischer Standards und in diverser Hinsicht skandalöse Zustände zutage, die man - um einen neuerdings beliebten Begriff einzusetzen - als strukturell bzw. systemisch ansehen kann.

Die skandalösen Zustände und das Versagen der Presse als 4. Gewalt sind offensichtlich großenteils auf die massive Einflußnahme - man findet hier leicht krasse Beispiele für die Cancel Culture - und die Unterwanderung der Medien und der Gesundheitsdienste durch Transaktivisten zurückzuführen. Im Gegensatz dazu war das Gericht weitgehend immun gegen derartige Einflußnahmen und konnte strittige Fragen weitaus rationaler diskutieren, als dies in der politischen Öffentlichkeit heute noch möglich ist. Das Urteil macht damit als Nebeneffekt demokratisch nicht legitimierte Machtstrukturen sichtbar bzw. beschränkt sie, was prompt zu einigen Tobsuchtsanfällen in den (a)sozialen Netzen führte.

In der englischen Presse hat das Urteil zu vielen Artikeln geführt (u.a. 1, 2, 3, 4, 5, 6). In der deutschen Medienlandschaft ist es "zufälligerweise" bisher komplett übersehen worden. Dieser Zufall verwundert nicht, denn mit Gendersternen und Gendersprechpausen agiert ein Großteil der Journalisten selber als Transaktivist, dürfte also not amused von dem Urteil sein.

Die in diesem Themenkomplex benutzten Begriffe sind Gegenstand intensiver Begriffskriege, daher folgt als nächstes ein kurzer Abschnitt mit den wichtigsten Begriffsdefinitionen, wie sie in diesem Text verwendet werden. Danach folgen eine Zusammenfassung des Urteils und eine Einordnung und Diskussion der Konsequenzen.



Die wichtigsten Begriffe

Eine Geschlechtsidentitätsstörung (bzw. Geschlechtsdysphorie, gender dysphoria) ist ein klinisch signifikantes Krankheitsbild bzw. Symptom, bei dem ein Patient eine tiefe Unzufriedenheit mit seinem biologischen Phänotyp, also seinem biologischen Geschlecht als Mann oder Frau, aufweist, diesen Phänotyp also strikt ablehnt. Transaktivisten betonen regelmäßig, daß diese Depression lebensgefährlich sei, weil ein Selbstmord des Patienten droht.

Als Ursache der Identitätsstörung wird eine sexuelle Identität angesehen, die unabhängig vom biologischen Geschlecht existiert. Sie kann also anders als das biologische Geschlecht sein - in diesem Fall ist die Person transident (Synonym: transgender). Diese Diskrepanz führt dann zu einer mehr oder minder ausgeprägten Identitätsstörung.

Als einzig mögliche Therapie, zumindest in schweren Fällen, wird eine "Geschlechtsumwandlung", also eine Änderung des Phänotyps hin zum gewünschten Geschlecht [1] angesehen, insb. durch Hormone oder Operationen. Nach einer solchen Umwandlung werden Personen als transsexuell bezeichnet (transsexuell wird aber auch oft als Synonym zu transident definiert).

Das Urteil vom 01.12.2020

Verhandelt wurde der Fall vom "High Court of Justice". Der High Court entspricht in etwa unseren Verfassungsgerichten. Er kann insb. die Durchführung von Gesetzen durch die Regierung und Behörden als illegal einstufen und verbieten.

Kläger und Beklagte

Kläger sind Quincy ("Keira") Bell und eine anonym bleibende, als "Mrs A" bezeichnete Mutter eines Mädchens [2]. Keira Bell ist jetzt 23 Jahre alt. Mit 14 hatte Keira Bell massive Probleme (Einsamkeit, Depressionen, alkoholkranke Mutter etc.), kam in Kontakt zu Transaktivisten und war irgendwann davon überzeugt, transident zu sein. Sie bekam daraufhin zunächst Pubertätsblocker und später Testosteron und beide Brüste amputiert. Anfang 20 sah sie wie Mann aus, aber nicht wirklich richtig: Hände und Körpergröße entsprachen eher denen einer Frau (eine Frau bekommt zwar einen Bart von Testosteron, aber die Knochen wachsen nicht dazu passend). Sie war letztlich genauso unglücklich wie mit 14. Sie bereute die Transition, brach die Testosteronbehandlung ab und verklagte die Klinik i.w. wegen unzureichender Beratung und Falschbehandlung auf Unterlassung dieser Praxis.

Direkt Beklagter war der Tavistock and Portman NHS Foundation Trust, der die Tavistock-Klinik und darin den Gender Identity Development Service (GIDS) betreibt. Indirekt angeklagt war das politisch verantwortliche National Health Service Commissioning Board (NHS England). Der GIDS führt die eigentlichen Behandlungen nicht selber durch, sondern delegiert dies an zwei andere Kliniken. Es erstellt also i.w. die primäre Diagnose. Der GIDS ist die einzige Instanz in England, die für Minderjährige eine Geschlechtsidentitätsstörung diagnostizieren darf.

Gliederung des Urteils

Das Urteil vom 01.12.2020 ist sehr lang und die Begründung sehr gründlich. Auf 39 Seiten stehen 153 numerierte Paragraphen. Es ist in folgende Abschnitte gegliedert:
  1. Section A: Introduction and Background (S.3, Para. 1-77)

    • Gender Dysphoria (Para. 12)
    • Gender Identity Development Service (GIDS) (Para. 13-21)
    • The Age and Patient Group for Puberty Blockers (Para. 22-35)
    • The process of taking consent (Para. 36-46)
    • Parental consent (Para. 47)
    • The effect of Puberty Blockers (Para. 48-55)
    • The relationship between Puberty Blockers and Cross-Sex Hormones (CSH) (Para. 56-59)
    • The impact of Puberty Blockers and their reversibility (Para. 60-68)
    • Evidence base to support the use of Puberty Blockers for Gender Dysphoria (Para. 69-74)
    • Persistence (Para. 74-77)
  2. Section B: Evidence of the Claimants and other Individuals (S.19, Para. 78-89)
  3. Section C: Submissions (S.19, Para. 90-104)
  4. Section D: The Law (S.19, Para. 105-132)
  5. Section E: Conclusions (S.34, Para. 133-150)
  6. Overall Conclusion (S.38, Para. 151-153)
Der Inhalt der Abschnitte sollte hinreichend deutlich werden.

Grundlegende Feststellungen und Ausgangsdaten

In Para. 9 betont das Gericht, nicht die medizinische bzw. psychotherapeutische Frage zu behandeln, wie man eine Geschlechtsidentitätsstörung bei jüngeren oder älteren Personen behandelt, sondern nur die Frage, ob minderjährige Patienten (unter 18 Jahre) vor der Behandlung ausreichend über deren Erfolgsaussichten, Risiken und Nebenwirkungen angemessen aufgeklärt werden und ob sie tatsächlich imstande sind, die Informationen angemessen zu bewerten, bevor sie einer Behandlung zustimmen.

Heranwachsende unter 16 Jahren wurden vor 2011 nicht mit Pubertätsblockern behandelt. Im Rahmen einer Studie wurde im Zeitraum 2011 - 2014 am University College London Hospital (UCLH) die Behandlung von Patienten von 12 bis 15 Jahren begonnen (Para. 22). Eine wissenschaftliche Analyse über die Erfolge dieses Versuchs liegt bis heute nicht als begutachtetes Papier vor, ein Entwurf eines solchen Papiers wurde dem Gericht übergeben (Para. 25).

Das Alter und die Behandlungsdauer der im Zeitraum 2011 - 2020 Behandelten waren nicht systematisch dokumentiert worden, entsprechende Statistiken konnten dem Gericht nicht verfügbar gemacht werden und stehen vermutlich auch nicht für wissenschaftliche Analysen zur Verfügung. Das Gericht war darüber offensichtlich nicht amüsiert (Para. 28: We note here that we find it surprising that such data was not collated in previous years given the young age of the patient group, the experimental nature of the treatment and the profound impact that it has.).

In 161 ab 2019 dokumentierten Fällen waren von den Kindern 26 (=16%) zwischen 10 und 13 Jahre alt, 69 (=43%) zwischen 14 und 15 Jahre alt, also insgesamt deutlich mehr als die Hälfte unter 16 Jahre alt. Da frühestens mit 16 eine Geschlechtsumwandlung begonnen wird, wurden die Kinder vermutlich maximal 5 Jahre lang mit Pubertätsblockern behandelt.

Die Zahl der eingewiesenen Patienten hatte sich von 97 in 2009 auf 2519 in 2018 enorm gesteigert. Der Anteil der biologischen Mädchen stieg von anfangs 50% auf 76% (Para. 31). Der GIDS konnte keine Erklärung für diese auffällige Verschiebung liefern und hat offenbar nicht danach gesucht.

Es ist bekannt - auch die GIDS-Unterlagen weisen darauf hin -, daß Autismus bei Heranwachsenden mit Geschlechtsidentitätsstörung weitaus häufiger als sonst ist. Der GIDS konnte dem Gericht keine Statistik liefern, wie häufig ADS (oder andere psychische Entwicklungsstörungen) unter den Patienten war, die einer Geschlechtsumwandlung zustimmten (Para. 34). Das Gericht war erneut nicht amüsiert (Para. 35: Again, we have found this lack of data analysis - and the apparent lack of investigation of this issue - surprising.). Die Überraschungen legen die Frage nahe, ob der GIDS überhaupt imstande ist, irgendjemanden - egal, ob jung oder alt - qualifiziert zu beraten.

Bei der Beratung werden die Patienten auf das hohe Risiko hingewiesen, durch Pubertätsblocker unfruchtbar zu werden und kein Sexualleben mehr haben zu können, sowie ggf. mehrfach beraten, wenn sie für eine Entscheidung noch zu unreif erscheinen (Para. 37-41). Auf Anfrage des Gerichts konnten aber keine Fälle genannt werden, wo ein Patient irgendwann als nicht zustimmungsfähig angesehen wurde und keine Pubertätsblockern verschrieben bekam.

Der unklare Zweck der Behandlungen

Eine zentrale Frage bei Behandlungen mit Pubertätsblockern ist, was deren wirklicher Zweck ist (Para. 52-55):
  1. In den Beratungen und Materialien wird als Zweck regelmäßig angegeben, damit Zeit zu gewinnen, damit ein Patient gründlich über die Entscheidung für oder gegen eine Geschlechtsumwandlung nachdenken kann. Suggeriert wird dabei, daß die Entscheidung offen bleibt und man zu einer normalen Entwicklung gemäß dem biologischen Geschlecht zurückkehren kann.
  2. Andere Äußerungen deuten darauf hin, daß es nur noch darum geht, die Entwicklung des Phänotyps des falschen biologischen Geschlechts zu unterdrücken und dadurch aufwendige chirurgische Maßnahmen, die sonst später notwendig werden, zu vermeiden, ferner um die Gefahr von Suiziden zu verringern. Implizit wird also eine Entscheidung für eine Geschlechtsumwandlung getroffen.
Für das Gericht wurde nicht ganz klar, welche dieser beiden Alternativen der wirkliche Zweck der Behandlung ist. Damit bleibt auch unklar, welche der beiden Alternativen den Patienten als Zweck der Behandlung vermittelt wird. Bei der zweiten Alternative wird die Entscheidung für eine Pubertätsblockierung zu einer Entscheidung über eine nachfolgende Geschlechtsumwandlung, eine "Versöhnung" mit dem biologischen Geschlecht, die in weniger schweren Fällen sehr häufig ist, wird gar nicht angestrebt, sondern durch die Behandlung eher verhindert.

Empirisch betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, daß auf eine Behandlung mit Pubertätsblockern eine Geschlechtsumwandlung folgt, extrem hoch. In einer niederländischen Analyse waren es 98.4% der Fälle. Entsprechende Statistiken über die eigenen Patienten hat das GIDS nicht, was das Gericht ein weiteres Mal surprising fand (Para. 59). Praktisch ist eine Entscheidung für eine Behandlung mit Pubertätsblockern zugleich eine Entscheidung für eine Geschlechtsumwandlung.

Nebenwirkungen und Abbrechbarkeit der Behandlungen

Ausführlich untersuchte das Gericht die Behauptung, daß man die Einnahme von Pubertätsblockern jederzeit abbrechen und dann zu einer normalen, ggf. etwas verzögerten Entwicklung gemäß dem biologischen Geschlecht zurückkehren kann. Diese Behauptung war Standard in den Beratungen und stand in vielen Materialien. Gewonnen wurde sie allerdings anhand von Kindern, bei denen die Pubertät verfrüht mit etwa 7 Jahren eintrat und die nur so lange behandelt wurden, bis die Pubertät in einem normalen Alter bzw. Wachstumszustand eintreten konnte. Es bestehen Zweifel daran bzw. es ist unklar, ob eine Pubertät im Alter von ca. 16 - 18 Jahren noch nachgeholt werden kann, u.a. weil das Knochen- und Größenwachstum dann schon abgeschlossen ist und der soziale Kontext gleichaltriger Pubertierender nicht mehr herstellbar ist. Der GIDS hat im Frühjahr 2020, also während des Prozesses, seine offiziellen Auskünfte hierzu grundlegend geändert [3]. Die Auskunft ist seitdem, daß man nicht weiß, wie sich eine künstlich verzögerte Pubertät auf die Entwicklung der Psyche, des Gehirns und des Knochenwachstums auswirkt (Para. 67).

Zur Debatte stand weiter die Frage, ob die Pubertätsblocker während der Zeit der Verordnung den psychischen Zustand der Patienten verbessern, also selber eine Therapie sind. Nach dem schon erwähnten, noch nicht veröffentlichten Papier trat bei 52% eine Verbesserung ein, bei 27% eine Verschlechterung, beim Rest keine Änderung (Para. 73).

Weiterhin besteht der Verdacht, daß die Behandlung mit Pubertätsblockern das Gefühl, transident zu sein, verstärkt (Para. 77) [4]. Bei einem großen Teil der Heranwachsenden mit Geschlechtsidentitätsstörung verschwindet das Problem von alleine, dies passiert bei einer Behandlung mit Pubertätsblockern praktisch nie. Die Patienten, die an das GIDS überwiesen wurden, sind andererseits die selektierten, harten Fälle.

Das Gerichtsurteil enthält im weiteren Verlauf Aussagen mehrerer Patienten, deren Transition erfolgreich oder nicht erfolgreich war. Die Paragraphen 80 - 84 enthalten einige Aussagen der Klägerin, die man selber lesen sollte, um zu verstehen, wie extrem schädigend eine Pubertätsverhinderung mit anschließender Geschlechtsumwandlung sein kann und daß eine solche fatale Fehlentscheidung nicht durch eine Beratung verhindert wird, die zumindest dem äußeren Anschein nach den offiziellen Standards entspricht [5]. Typisch im vorliegenden Fall war, daß wiederholte korrekte Hinweise auf die potentiellen Schäden der Behandlungen nicht rational verarbeitet wurden, sondern nur zu einer Trotzreaktion führten.

Ein zentrales Argument der Anklage war, daß die Klägerin nicht klar genug auf die massiven negativen Konsequenzen der Behandlungen hingewiesen wurde. Andererseits kann eindeutig ausgeschlossen werden, daß die Beratung durch der GIDS grob fahrlässig oder fehlerhaft war. Dieses Dilemma verdeutlicht ein fast unlösbares Problem, vor dem eine beratende bzw. diagnostizierende Instanz steht: sie hat letztlich nur die Aussagen der Patienten als Grundlage, diese Aussagen können falsch sein - egal ob bewußt oder unbewußt - und man kann deren Wahrheit nicht sicher herausfinden.

Die fehlende Kausalität der Behandlung

In Abschnitt E Conclusions bewertet das Gericht die vorgebrachten Argumente. Besonders interessant ist der Paragraph 135:
Außerdem müssen die Art und der Zweck des medizinischen Eingriffs berücksichtigt werden. Der zu behandelnde Zustand, die Geschlechtsidentitätsstörung, hat keine direkte körperliche Manifestation. Im Gegensatz dazu hat die Behandlung dieses Zustands unmittelbare körperliche Folgen, da die Medikamente die körperlichen Veränderungen, die sonst im Körper auftreten würden, verhindern sollen und dies auch tun, insbesondere indem sie die biologische und körperliche Entwicklung stoppen, die sonst in diesem Alter stattfinden würde. .... Unseres Erachtens unterscheidet sich die klinische Intervention, um die es hier geht, aus den bereits genannten Gründen in ihrer Art von anderen Behandlungen oder klinischen Interventionen. In anderen Fällen wird eine medizinische Behandlung eingesetzt, um einen diagnostizierten körperlichen oder geistigen Zustand zu heilen oder seine Symptome zu lindern, und die Auswirkungen dieser Behandlung sind direkt und normalerweise offensichtlich. Die Position in Bezug auf Pubertätsblocker scheint dieser Beschreibung nicht zu entsprechen.
Das Urteil weist korrekt auf ein zentrales Problem hin: die Krankheitssymptome und die Behandlung liegen sozusagen in verschiedenen Dimensionen bzw. sind kategoriell verschieden. Die Behandlung geht nicht direkt auf die Ursachen der Symptome ein, sie ist keine kausale Therapie. Sie kann es auch nicht sein, denn die Ursache der Symptome ist letztlich nicht klar bestimmbar bzw. unbekannt. Nach dem Urteilstext haben die Prozeßbeteiligten auch nicht versucht, eine direkt therapierbare Ursache zu benennen.

Die Behandlung ist aber auch keine symptomatische Therapie, denn die Symptome werden nicht direkt unterdrückt. Sie werden nur indirekt auf Basis der Annahme bekämpft, daß die körperlichen Änderungen etwas in der Psyche bewirken, das die Symptome zum Verschwinden bringt. Diese indirekte Wirkung auf die Symptome ist ausgesprochen spekulativ, und De-Transitionen wie die von Keira Bell zeigen, daß sie nicht zuverlässig eintritt.

Fazit des Gerichts

Im Endeffekt gibt das Urteil der Klägerin in zentralen Punkten recht. Das Gericht scheint ziemlich konsterniert darüber gewesen zu sein, daß die Klinik sich praktisch ausschließlich auf die Selbstdiagnose der Patienten verläßt, daß auf die Behandlung mit Pubertätsblockern, die angeblich aufschiebend und keine Vorentscheidung für eine Geschlechtsumwandlung ist, in Wirklichkeit fast immer eine Geschlechtsumwandlung folgt und daß keine klare Evidenz vorliegt, daß die Behandlungen erfolgreich sind, insb. in Relation zu den Risiken. Die entsprechenden Paragraphen 151 und 152 in der Overall Conclusion lauten:
Ein Kind unter 16 Jahren darf der Einnahme von Medikamenten zur Unterdrückung der Pubertät nur dann zustimmen, wenn es in der Lage ist, die Art der Behandlung zu verstehen. Dazu gehört das Verständnis der unmittelbaren und langfristigen Folgen der Behandlung, der eingeschränkten Evidenz für die Wirksamkeit oder Zweckmäßigkeit der Behandlung, der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten anschließend geschlechtsumwandelnde Hormone einsetzt, und der möglichen lebensverändernden Konsequenzen für ein Kind. Ein Kind unter 16 Jahren wird enorme Schwierigkeiten haben, diese Informationen zu verstehen und abzuwägen und zu entscheiden, ob es der Einnahme von pubertätshemmenden Medikamenten zustimmen soll. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Kind im Alter von 13 Jahren oder jünger kompetent genug ist, in die Verabreichung von Pubertätsblockern einzuwilligen. Es ist zweifelhaft, dass ein Kind im Alter von 14 oder 15 Jahren die langfristigen Risiken und Folgen der Verabreichung von Pubertätsblockern verstehen und abwägen kann.

Für Jugendliche ab dem Alter von 16 Jahren und darüber wird bei der derzeitigen Rechtslage vermutet, dass sie in der Lage sind, einer medizinischen Behandlung zuzustimmen. Angesichts der langfristigen Folgen der klinischen Interventionen, die in diesem Fall zur Debatte stehen, und angesichts der Tatsache, dass die Behandlung noch innovativ und experimentell ist, sind wir der Ansicht, dass Kliniker diese Fälle durchaus als Fälle betrachten können [clinicians may well regard these as cases], in denen vor Beginn der klinischen Behandlung die Genehmigung des Gerichts eingeholt werden sollte.

Meine Übersetzung; es ist nicht ganz klar, wie streng der Hinweis may well regard im letzten Satz zu verstehen ist, daß auch ab einem Alter von 16 eine Behandlung nur mit Zustimmung eines Gerichts erlaubt sein sollte.

Bewertung und Konsequenzen

Das Gericht bezeichnet die Behandlungen wiederholt als experimentell, also nicht den üblichen medizinischen Standards entsprechend. Diese Kritik ist keineswegs neu, sondern wird zusammen mit dem Hinweis auf die häufigen Fehldiagnosen (insb. von eigentlich Homosexuellen) bzw. De-Transitionen seit einiger Zeit von einigen Autoren, die den Mut dazu hatten, geäußert. Mut braucht man, denn bei den realen heutigen Machtverhältnissen in den Medien wird derartige Kritik in Form wissenschaftlicher oder journalistischer Papiere sofort als Transphobie schärfstens geahndet. Die Gefühle von Transsexuellen zu verletzen gilt in einflußreichen Kreisen als Sakrileg, wie auch in den aktuellen Debatten zwischen TERFs und Transaktivisten deutlich wird.

Berichten zufolge war dazu passend die Fluktuation von Therapeuten beim GIDS und den behandelnden Kliniken in den letzten 10 Jahren ungewöhnlich hoch, weil diese die Behandlungen persönlich nicht mehr verantworten wollten.

Die oben erwähnten Hinweise auf die fehlende Kausalität der Behandlungen im Gerichtsurteil bestätigen alte Zweifel daran, ob es so etwas wie eine sexuelle Identität im Sinne eines originären, nicht vom Phänotyp abgeleiteten Persönlichkeitsmerkmals (mehr dazu hier) überhaupt gibt. Selbst wenn es dieses Persönlichkeitsmerkmal gibt, dann ist seine Ausprägung nicht objektiv feststellbar. Damit ist es aber grundsätzlich ungeeignet als Grundlage für Rechtsansprüche. Dies widerspricht diametral der Absicht, so etwas wie eine sexuelle Identität [6] in Art. 3 GG als Diskriminierungsmerkmal zu verankern.

Man kann nur hoffen, daß das Urteil im Fall Keira Bell dazu beiträgt, die Debatten über die vorgenannten Themen zu versachlichen und der dort herrschenden Cancel Culture entgegenzuwirken.

Anmerkungen

[1] Der Begriff "Geschlecht" ist hochgradig mehrdeutig; in fast allen biologischen Bedeutungen kann das Geschlecht einer Person nicht umgewandelt werden.

[2] In dem soeben erschienen Artikel Adams (2020) wird "Mrs A" ausführlich interviewt. Ihr jetzt 16 Jahre altes Mädchens hat Asperger-Syndrom und wünscht gegen den Willen der Mutter eine Geschlechtstransformation. Mrs A beschreibt, wie ihre Tochter in online-Foren von Transaktivisten zum Trans-Sein überredet und radikalisiert wurde. Sie hält die Diagnose des GIDS für falsch und sieht starke Anzeichen, daß der GIDS ihr Kind dessen Wunsch entsprechend mit Pubertätsblockern und den üblichen Folgebehandlungen behandeln und für den Rest des Lebens schädigen wird.

[3] Dieser Schwenk um 180 Grad blieb nicht unkommentiert, s. Kirkup (2020).

[4] Die Patienten und deren Umfeld investieren in dieses Behandlungen sehr viel Zeit und Energie. Alleine deswegen erfordert es viel Mut und Selbstüberwindung, eine solche Behandlung abzubrechen und sich und anderen damit einzugestehen, daß man jahrelang grundlegend falsch gelegen hat und große Investitionen "verloren" sind. Diese mentale Blockade folgt alleine aus dem Aufwand und kommt zu den Schwierigkeiten hinzu, den Abbruch inhaltlich zu begründen.

[5] Diese Sichtweise entsteht bei der Lektüre des Urteils, stellt also den Eindruck dar, der dem Gericht vermittelt wurde. In deutlichem Gegensatz dazu stehen Berichte, wonach viele Psychoanalytiker des GIDS die Behandlungen unverantwortlich fanden und aus Protest den GIDS verließen.
Laut einer Reportage der BBC haben in den letzten drei Jahren über 40 Ärzte den GIDS verlassen, u.a. aufgrund von Befürchtungen, daß Kinder, die infolge sexuellem Mißbrauch Traumata haben oder die als Homosexuelle unter Mobbing leiden, grundlegend falsch als transsexuell therapiert werden. Die in der BBC-Reportage zitierten Mitarbeiter beklagen, Dr. Polly Carmichael, Director am GIDS, hätte sie "demotiviert", zuständigen Kontrollorganen über derartige Probleme zu berichten - eben diese Ms. Carmichael war im Prozeß Hauptzeuge des GIDS und wird ein gutes Dutzend mal zitiert.
Eine ehemalige Psychologin des GIDS wußte sich wegen der internen Zensur durch Transaktivisten nicht anders zu helfen als mit einem offenen Brief Entwistle (2019) auf die erheblichen Mißstände hinzuweisen.
Bannerman (2019) interviewte 5 ehemalige Mitarbeiter, die die Tavistock-Klinik wegen moralischer Bedenken und Angst um die Sicherheit der jungen Patienten verlassen hatten.
Evans (2020) beschreibt ausführlich, wie jegliche Kritik an den Therapien unter dem Einfluß von Transaktivisten unterdrückt wurde und warum er als Mitglied des Kontrollorgans zurücktrat.

[6] Die Bezeichnung "sexuelle Identität" wird mit völlig verschiedenen Bedeutungen benutzt. Es würde hier zu weit führen, dieses Chaos aufzufächern. Unter den Bedeutungen ist jedenfalls die obige im Sinne eines originären Persönlichkeitsmerkmals enthalten, und auf diese Bedeutung würde später mit Sicherheit zurückgegriffen werden.

Quellen