Sexuelle Identität

Inhaltsübersicht

Übersicht und Einordnung

Unter sexueller Identität (synonym: sexuelles Selbstkonzept, engl. gender identity) versteht man, informell formuliert, das "Geschlecht", dem sich ein Individuum selber zugehörig fühlt, als das es sich empfindet.

Die sexuelle Identität ist im Gegensatz zum biologischen Geschlecht nach der Geburt noch nicht vorhanden, sie entsteht erst in den ersten Lebensjahren. Die sexuelle Identität ist also eine geschlechtsbezogene Eigenschaft von Menschen ab einem gewissen Alter, genauer gesagt ein psychisches (bzw. mentales) Geschlechtsmerkmal (im Gegensatz zu biologischen und sozialen Geschlechtsmerkmalen).

Inhaltlich bzw. begrifflich gehört die sexuelle Identität auch nach jahrzehntelangen Debatten zu den umstrittensten und am schlechtesten verstandenen Begriffen. Hauptursachen hierfür sind:

  • Man kann psychische Zustände nicht direkt messen oder irgendwie objektiv feststellen. Man kann es noch nicht einmal selber von sich selbst, erst recht kann es ein Außenstehender nicht von anderen. Stattdessen schließt man oft vom Sozialverhalten oder erkennbaren Stimmungen einer Person auf deren Psyche zurück. Dabei man vermischt leicht psychische Geschlechtsmerkmale mit sozialen, insb. kulturspezifischen geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern. Diese sind aber mehr oder weniger erlernt und haben soziale Ursachen, also keine inhärent psychischen Ursachen.
  • Sehr große definitorische Probleme verursacht die Transidentität (bzw. Transsexualität). Informell definiert wird Transidentität meist als Zustand, in dem die sexuelle Identität anders als das biologische Geschlecht (i.d.R. verstanden als der Phänotyp) ist. Diese Definition setzt aber eine Annahme voraus, die ganz gravierende Konsequenzen hat: Hierzu muß die sexuelle Identität ein selbständiger, vom biologischen Geschlecht unabhängiger "Trieb" sein, sozusagen ein aktives Bedürfnis. Um dessen Entstehung, Änderbarkeit und weitere Merkmale beschreiben zu können, braucht man einen eigenen, neuen Begriffsrahmen. Dieser Begriffsrahmen ist bei nichttransidenten Personen, also im 99,9%igen Normalfall, nicht sinnvoll anwendbar, weil dort die sexuelle Identität passiv aufgrund des eigenen Phänotyps gebildet wird.
Bei nichttransidenten und transidenten Personen unterscheidet sich daher der Begriff der sexuellen Identität bei genauer Betrachtung grundlegend. Dies dürfte die strukturelle Ursache für die anhaltenden ideologisch motivierten Begriffskriege sein, in denen verschiedene Seiten unklare bzw. inkompatible Begriffsbildungen propagieren.

Im folgenden gehen wir nach einigen begrifflichen Abgrenzungen, u.a. Unterschieden zu verwandten Begriffen und z.T. auftretenden Inkonsistenzen, sowie einer kurzen Beschreibung der Entwicklung der sexuellen Identität in den ersten Lebensjahren auf die zentrale Frage ein, ob die sexuelle Identität passiv oder aktiv gebildet wird, m.a.W. vom biologischen Geschlecht abgeleitet oder davon unabhängig ist. Danach gehen wir auf die weiteren Begriffe ein, die nur bei Transidentität sinnvoll sind.



Sexuelle Identität - Grundlegende begriffliche Eingrenzungen

Ähnliche und verwandte Begriffe
Teilweise werden die Bezeichnungen Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung für sehr ähnliche Phänomene verwendet.

Die Bezeichnung sexuelle Orientierung wird meist für einen umfassenderen Begriff verwendet, der neben der sexuellen Identität auch die sexuelle Attraktion oder sexuelle Praktiken beinhaltet. Wir verwenden i.f. nur die Bezeichnung sexuelle Identität.

Manchmal wird auch der Begriff "Gender" als synonym zu "sexuelle Identität" definiert.

Die sexuelle Attraktion sehen wir, weil biologisches Merkmal, hier nicht als Teil der sexuellen Identität an. Die sexuelle Attraktion wie auch ggf. sexuelle Aktivitäten gelten als im Prinzip unabhängig von der sexuellen Identität.

Transidentität und Transsexualität
Als transident bezeichnet man Personen, deren sexuelle Identität nicht identisch mit ihrem wahrnehmbaren biologischen Geschlecht (Phänotyp). Meist, aber nicht immer, sind transidente Personen, ausgehend von ihrer sexuellen Identität, heterosexuell.

Die Bezeichnungen transsexuell und transgender werden oft als Synonym zu transident benutzt, bedeuten aber, soweit man dies im vorherrschenden Begriffschaos überhaupt sagen kann, oft etwas anderes. Die Bezeichnung "transsexuell" wird oft für Personen benutzt, die transident sind und die eine Transition vorgenommen haben. Die Bezeichnung "transgender" scheint in letzter Zeit überwiegend als Synonym zu transident benutzt zu werden.

"Transgender" wird häufig, z.B. in der Wikipedia, definiert als gender identity or gender expression that differs from the sex that they were assigned at birth. Diese Definition weist den gleichen Fehler auf die folgende Definition eines Sonnenaufgangs: "Der Sonnenaufgang ist der Moment bei der Umdrehung der Sonne um die Erde, wo die Sonne über den Horizont aufsteigt". In der Definition versteckt ist eine hochumstrittene bzw. falsche Annahme bzw. Aussage. Der eigentliche Zweck der Definition besteht in der Verbreitung dieser Falschaussage im Rahmen eines Begriffskriegs, ist also Propaganda. Eine hochumstrittene bzw. falsche Aussage ist hier "assigned at birth", also die Behauptung, bei der Geburt würde ein Geschlecht "zugewiesen". Eine Zuweisung ist ein willkürlicher Akt, ähnlich wie eine Platzanweisung im Kino. Der zugewiesene Wert braucht nicht korrekt zu sein, weil er auf einem Machtgefälle basiert, kann also später als willkürlich abgelehnt werden. Tatsächlich wird ein Neugeborenes nach der Geburt anhand seines objektiv erkennbaren biologischen Merkmale als biologisch männlich oder weiblich klassifiziert, wenn dies eindeutig möglich ist, andernfalls als "divers". Diese Klassifizierung ist nicht willkürlich, sondern objektiv nachvollziehbar, sie kann auch nicht als falsch, weil willkürlich, abgelehnt werden. Über das später entstehende sexuelle Selbstkonzept ist damit nichts ausgesagt.

Wenn man bei der Wikipedia-Definition und bei der obigen informellen Definition genau hinsieht, erkennt man einen gravierenden Kategorienfehler: das psychische Geschlecht wird mit dem biologischen Geschlecht verglichen. Es werden also Ausprägungen von zwei verschiedenen Begriffen verglichen, wobei gar nicht klar ist, ob beide Begriffe die gleiche Menge von Ausprägungen haben und, selbst wenn einzelne Ausprägungen bei beiden Begriffen vorkommen, ob diese Bezeichnungen das gleiche bedeuten (was sie i.a. nicht tun oder zumindest unklar ist).

Die beiden vorstehenden Beispiele - Propaganda und Kategorienfehler - zeigen, daß man bei Versuchen, Begriffe wie Transidentität und Transsexualität auch nur grob und informell einzugrenzen, nahezu zwangsläufig in Begriffskriege involviert wird. Auf diese Begriffskriege gehen wir weiter unten ausführlicher ein.

Innere Widersprüche und Inkonsistenzen
Einige Beiträge zur Debatte sind so eklatant falsch, daß wir sie hier nur kurz erwähnen, aber i.f. nicht weiter berücksichtigen. Auf die gravierenden definitorischen Probleme, die gängige Definitionen von sexueller Identität von Seiten von Trans-Aktivisten haben, gehen wir aus Platzgründen unten separat ein.

Wie schon in diesem Comic thematisiert werden häufig selbstgewählte Ausprägungen der sexuellen Identität benutzt, z.B. agender oder neutrois, die postulieren, daß diese Person im Prinzip gar keine sexuelle Identität hat. Eine Ausprägung eines Merkmals kann aber logisch nicht die Existenz diese Merkmals verneinen, das ist ein innerer Widerspruch. Bestenfalls kann man die Situation so interpretieren, daß die Person wünscht, daß ihre sexuelle Identität unbekannt oder nicht feststellbar ist, auch für sie selber, oder sie sich nicht entscheiden kann.

Ähnlich verhält es sich mit "genderfluid" o.ä. Selbstbezeichnungen, die postulieren, daß sich die sexuelle Identität dieser Person nur für kurze Zeit stabil ist und sich jederzeit ohne Vorwarnung ändern kann. In diesem Fall ist jede Bestimmung der sexuellen Identität sinnlos, weil man die Person nicht dauerhaft danach klassifizieren kann. (Der Sinn von Geschlechtsbegriffen besteht immer darin, Personen anhand ihrer sexualitätsbezogenen Eigenschaften klassifizieren und abhängig vom Geschlecht unterschiedlich behandeln zu können!) D.h. die Information, daß diese Merkmalsausprägung vorliegt, kann man für nichts gebrauchen, denn im nächsten Moment kann sie schon wieder ungültig sein. Damit wird auch das Merkmal "sexuelle Identität" sinnlos.

Diese impliziten Ablehnungen des Merkmals "sexuelle Identität" deuten stark darauf hin, daß das Merkmal tatsächlich eine Fehlkonstruktion, also keine valide Begriffsbildung ist. Besonders problematisch wird dies, wenn links-grüne politische Fraktionen fordern, den Schutz der sexuellen Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Die sexuelle Identität einer Person kann nicht geschützt werden, wenn diese Person das Recht hat, keine sexuelle Identität zu haben oder diese nicht zu offenbaren oder ständig zu ändern.

I.f. berücksichtigen wir die o.g. inkonsistenten Definitionen nicht weiter.



Entstehung und zeitliche Entwicklung der sexuellen Identität

Das Phänomen "sexuelle Identität" tritt bei allen Menschen bei einer normalen sozialen Entwicklung ab einem gewissen Alter auf, ist also mit dieser zeitlichen Einschränkung ein generelles Merkmal von Menschen.

Die eigene Zuordnung zu einem wahrgenommenen biologischen Geschlecht gilt als zentral für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen. Sie setzt bereits mit ca. 2 Jahren ein und zielt darauf, sich einem der beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechter zugehörig zu fühlen und Personen des "gleichen Geschlechts" gegenüber mehr Gemeinsamkeiten zu empfinden als Personen des "anderen Geschlechts". Die initiale Bildung eines Selbstkonzepts ist mit ca. 4 Jahren, also lange vor der Pubertät, weit fortgeschritten. Sie führt bereits in diesem jungen Alter zu ersten Verhaltensdifferenzen den beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechtern gegenüber (s. Klein (1999), Wagner (2013)).

Das eigene Geschlecht wird üblicherweise anhand des wahrgenommenen eigenen biologischen Geschlechts bestimmt. Die Kleinkinder selber können das bei sich selber, wenn wir von kulturellen Markierungen absehen, äußerlich nur am Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Penis bzw. Scheide festmachen, die anderen Geschlechtsmerkmale (Körpergröße, Kraft etc.) sind bei Kindern noch wenig ausgeprägt. Diese Körperregion ist aber in allen entwickelten Kulturen bei Erwachsenen durch Kleidung verdeckt. Daher wird bei kleinen Kindern die eigene Zuordnung zu einem der wahrgenommenen biologischen Geschlechter erheblich durch Beeinflussung von außen bestimmt und kann - bei entsprechend motivierten Eltern - entgegengesetzt zum biologischen Geschlecht sein. Erst mit höherem Wissensstand (ca. 7 - 10 Jahre Alter) und deutlicher ausgeprägten Körpermerkmalen (spätestens mit Eintritt der Pubertät) kann sich ein heranwachsendes Kind selber einem der wahrgenommenen biologischen Geschlechter zuverlässig zuordnen (s. Asendorpf / Neyer (2012), Kap. 7.2.3 Entwicklung des Geschlechtsverständnisses).

Im Rahmen der Pubertät (ggf. schon vorher infolge von Porno-Konsum) ändert sich die Menge der Konzepte, die mit der sexuellen Identität verbunden sind, erheblich. Kleine Kinder können Erwachsene anhand Stimmlage. Körpergröße und -Form und weiteren wahrnehmbaren Merkmalen, ferner typischen Verhaltensmustern leicht als Mann bzw. Frau klassifizieren, mehr ist es aber nicht. Abgesehen von einigen Verhaltensstereotypen bleibt die sexuellen Identität inhaltlich relativ leer.

Nach der Geschlechtsreife kommen die vorher nicht vorhandene sexuelle Attraktion und erste eigene sexuelle Erfahrungen hinzu. Die Eigenschaft, ein Mann bzw. eine Frau zu sein, ist nun mit einer bestimmten Funktion bzw. Rolle beim Geschlechtsverkehr verbunden. D.h. inhaltlich wird die sexuelle Identität mit sehr emotionalen Erlebnissen verbunden. Ferner werden die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen besser sichtbarer und mental präsenter.

Wenn man also unter sexueller Identität nicht nur die bloße Zuordnung zu einem Geschlecht versteht, sondern in einer operationalen Sichtweise auch einen Vorrat an Verhaltensweisen und Rollen, dann ändert sich dieser Vorrat nach der Pubertät ganz erheblich. Anders gesagt ist ist die sexuelle Identität erst nach der Pubertät vollständig entwickelt.



Sexuelle Identität als originäres oder abgeleitetes Persönlichkeitsmerkmal

Bei der Definition des Begriffs sexuelle Identität steht man vor einer Frage, deren große Bedeutung u.U. erst auf den zweiten Blick klar wird, nämlich ob die sexuelle Identität
  • ein originäres Persönlichkeitsmerkmal, ein eigener "Trieb", ähnlich wie Linkshändertum, ist oder
  • ein vom biologischen Geschlecht abgeleitetes, Persönlichkeitsmerkmal, das also nicht unabhängig vom biologischen Geschlecht ist und nicht frei gewählt wird.
In den ersten Lebensjahren und im Regelfall auch später wird bei nichttransidenten Menschen die sexuelle Identität gebildet, indem man die eigenen (primären und sekundären) biologischen Merkmale feststellt: man ordnet sich einem der beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechter zu, und zwar demjenigen, für das diese Merkmale typisch sind, oder "divers", wenn bei Intersexualität keine eindeutige Klassifizierung möglich ist.

Hierbei hat man implizit den abstrakten Begriff "Geschlecht" beim "sich einem Geschlecht zuordnen" konkretisiert als wahrgenommenes biologisches Geschlecht (Phänotyp). Die Menge der "sexuellen Identitäten" besteht folglich aus den beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechtern Mann und Frau zzgl. bei Bedarf "divers". Das "Meßverfahren" zur Bestimmung der sexuellen Identität bei sich selber oder jemand anderem besteht darin, die biologischen Merkmale zu überprüfen.

Bei dieser Methode zur Bestimmung der eigenen sexuellen Identität ist die sexuelle Identität keine originäre, eigenständige Eigenschaft eines Menschen. Sie ist vielmehr eine psychische Eigenschaft, die aus biologischen Merkmalen abgeleitet ist.

Man benötigt den Begriff sexuelle Identität im Sinne einer originären, von der Biologie unabhängigen Eigenschaft hier gar nicht: Man stellt seine Zugehörigkeit zu einem Geschlecht durch Inspektion der eigenen biologischen Verhältnisse fest. Es ist hier kein besonderer Wille oder Wunsch erforderlich, zu einem bestimmten Geschlecht zu gehören. Das Selbstverständnis, ein Mann bzw. eine Frau zu sein, entsteht sozusagen passiv.

Dazu passend sagen sehr viele Personen über sich aus, daß in ihrer Selbstwahrnehmung die Eigenschaft, Mann bzw. Frau zu sein, keine Rolle spielt, z.B. im Vergleich zum Beruf, zur Staatsangehörigkeit, Hobbys oder anderen Charakteristika einer Person. Analog dazu ist kein expliziter Wille erforderlich bzw. ein entsprechendes Bewußtsein vorhanden - und auch von niemandem ernsthaft unterstellt -, zwei Beine zu haben (und nicht drei oder fünf) und Luft zu atmen und keine Kiemen zu haben.

Bei nichttransidenten Menschen ist die Existenz eines expliziten Willens, einem bestimmten Geschlecht anzugehören, nicht plausibel. Ob ein solcher Wille vorhanden ist oder nicht, ist von außen nicht unterscheidbar. Das Vorhandensein eines solchen Willens kann man nur erkennen, wenn er nicht erfüllt wird und wenn die jeweilige Person infolgedessen aktiv Maßnahmen zur Erfüllung des Wunsches ergreift.

Damit ist aber die Vorstellung von einer sexuellen Identität als einer eigenständigen, vom biologischen Geschlecht unabhängigen Eigenschaft für alle nichttransidenten Menschen, also bei ca. 99.9% der Bevölkerung, sinnlos.

Im Gegensatz dazu ist für transidente Menschen die Annahme von existenzieller Bedeutung, daß die sexuelle Identität eine originäre, vom biologischen Geschlecht unabhängige Eigenschaft eines Menschen ist - und zwar eine Eigenschaft jedes Menschen, auch der nichttransidenten! Andernfalls könnte man alternative, politisch unerwünschte Erklärungen heranziehen, z.B. eine spezielle Form von Fetischismus. Selbst wenn ein solcher Wille bei transidenten Menschen vorhanden ist, kann man daraus nicht folgern, daß er bei allen Menschen vorhanden ist. Analog dazu haben zwar manche Menschen ein absolutes Gehör, deswegen aber keineswegs alle Menschen.

Beweisbar ist keine der beiden o.g. Alternativen, da die psychologischen Meßverfahren, mit denen man Wünsche oder mentale Dispositionen messen kann, viel zu ungenau sind. Erst recht nicht kann man alle Faktoren, die zur Entstehung des psychischen Zustands einer Person beigetragen haben, hinreichend genau erfassen.

Konsequenzen der Transidentität für den Begriffsrahmen
Wenn man die sexuelle Identität als eigenen, vom biologischen Geschlecht unabhängigen "Trieb" ansieht, entstehen diverse neue Fragen, zu deren Beantwortung man neue Konzepte, Mutmaßungen und Begriffe braucht:
  1. Die sexuelle Identität ist im Sinne eines sexuellen Selbstkonzepts eine Aussage über sich selber, z.B. "Ich bin eine Frau." oder allgemeiner "Ich bin ein X", worin X eine Geschlechtskategorie ist. Nun sind Geschlechtskategorien Ausprägungen von Geschlechtsbegriffen - auf welchen Geschlechtsbegriff wird hier Bezug genommen?

    Ein Geschlechtsbegriff und die jeweilige Liste seiner Ausprägungen ist immer auf einen bestimmten Anwendungskontext bezogen - auf welchen Anwendungskontext wird hier Bezug genommen und ist in diesem Anwendungskontext eine freie Wahl des Geschlechts zulässig?

    Bei Transidentität bleiben die Antworten auf diese Frage i.d.R. offen. Als Wunschgeschlecht werden ausschließlich "Mann" bzw. "Frau" verhandelt, aber keine anderen Ausprägungen der unterschiedlichen Geschlechtsbegriffe (Ausprägungen wie "nichtbinär" oder "fluid" wären logisch kaum vereinbar mit dem unbedingten Willen, ein ganz bestimmtes Geschlecht zu haben). "Mann" und "Frau" treten in fast allen Geschlechtsbegriffen als konkrete Ausprägung oder als Oberbegriff für mehrere Ausprägungen auf, haben also keineswegs überall die gleiche Bedeutung.

  2. Woher stammt die Erkenntnis in der Aussage über sich selber "Ich bin ein X"? Zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung entsteht die Erkenntnis? Kann sich diese Erkenntnis auch ändern (ähnlich wie eine Laune)? Damit zusammenhängende weitere Frage sind: Handelt es sich um eine konstante oder um eine zeitlich variierende Eigenschaft von Menschen (insb. nach der Pubertät)? Falls variierend, in welchen zeitlichen Abständen?

    Generell kommen als Antworten auf diese Fragen biologische, psychische und soziologische Ursachen infrage, die wir weiter unten diskutieren.

  3. Wie kann ein Außenstehender die sexuelle Identität einer Person bestimmen? In welchen Phänomenen bzw. Merkmalsausprägungen manifestiert sich die Zugehörigkeit zu dem gewünschten Geschlecht in für Außenstehende erkennbare Weise?
  4. Welche Handlungen oder Verhaltensweisen folgen aus dem Wunsch, einem bestimmten Geschlecht anzugehören? Bzw. genereller gesagt, welche operationalen Konsequenzen hat der Wunsch? Dies kann die Person selber betreffen, aber auch ihre Umwelt: Welche Forderungen werden an andere Personen bzw. die soziale Umwelt gestellt? (z.B. auf bestimmte Weise angesprochen oder behandelt zu werden)
Beispiele für an Transidentität bzw. Transsexualität orientierten Definitionen von sexueller Identität
Byrne (2019) vergleicht im Detail mehrere Definitionen von sexueller Identität, die von ausgewiesenen Autoritäten bzw. Interessengruppen stammen:
  • Die World Professional Association for Transgender Health (WPATH) definiert "gender identity" in ihrem Standards of Care so:
    A person's intrinsic sense of being male (a boy or a man), female (a girl or woman), or an alternative gender (e.g., boygirl, girlboy, transgender, genderqueer, eunuch).
  • Sally Hines, Professor für Soziologie bzw. Gender Studies, definiert "gender identity" in einer Mongraphie so:
    [gender identity] refers to each person's internal sense of being male, female, a combination of the two, or neither. It is a core part of who people know themselves to be.
  • Die American Psychological Association (APA) definiert in ihrem Report on Gender Identity and Gender Variance:
    Gender identity refers to a person's basic sense of being male, female, or of indeterminate sex (Stoller, 1968).
Diese Definitionen arbeiten durchweg mit undefinierten Begriffen wie "intrinsic / internal / basic sense", nur beispielhaft mit einzelnen Bezeichnungen für Geschlechtskategorien, die letztlich undefiniert sind oder sogar kategoriell verschieden. Sie sind oft zyklisch, weil sie indirekt wieder auf diffuse Geschlechtsbegriffe zurückgreifen. Die Defizite dieser Definitionsversuche werden in Byrne (2019) detailliert analysiert werden.

Auch andere zentrale Begriffe waren und sind Gegenstand heftiger Auseinandersetzung und wurden immer wieder geändert. Beispiele für das Scheitern von jahrelangen Versuchen, konsistente Begriffe zu finden, sind die Wikipedia-Einträge für Transidentität und Transsexualität: Sie überlappen stark und geben unterschiedliche Definitionen und Abgrenzungen dieser Begriffe, obwohl sie über viele Jahre hinweg mehrere 1000 Mal "verbessert" worden sind. Diese Beispiele illustrieren jedenfalls, daß es schwierig bis unmöglich ist, zu sauberen Definitionen zu kommen.



Biologische, psychische bzw. soziologische Ursachen für das sexuelle Selbstkonzept

Wir kommen hier auf die Frage zurück, woher eine Person zur Erkenntnis bzw. Überzeugung kommt, einem bestimmten Geschlecht X anzugehören. Die Ursachen können in der Biologie, der Psyche und den sozialen Einflüssen liegen, dementsprechend wäre die sexuelle Identität ein biologischer, psychischer bzw. soziologischer Geschlechtsbegriff.

Bei nichttransidenten Personen ist die Antwort trivial: der Phänotyp bestimmt das Selbstkonzept. Bei Transidentität, die wir i.f. unterstellen, sind mehrere Antworten denkbar, die wir anschließend diskutieren.

Geschlechtsdysphorie (gender dysphoria)
Transidentität kann zu einem depressivem Krankheitsbild führen, das als Geschlechtsdysphorie (gender dysphoria oder gender identity disorder) bezeichnet wird. Zu dessen Behandlung werden vielfach Geschlechtsumwandlungen (Transitionen) vorgenommen. Dies sind medizinisch aufwendige, teure und teilweise sehr gefährliche Behandlungen, für die natürlich eine ärztliche Diagnose notwendig ist.

Solche Diagnosen sind scheinbar ein Anlaß, die sexuelle Identität, also das Wunschgeschlecht, einer betroffenen Person zu bestimmen und Methoden zu entwickeln oder zu verbessern, mit denen die sexuelle Identität oder zumindest Ursachen für eine bestimmte sexuelle Identität bestimmt werden können. Insofern ist die Kenntnis der Ursachen für bestimmte sexuelle Selbstkonzepte auch von therapeutischem Interesse, zumindest vordergründig.

Tatsächlich scheinen die Diagnosen sehr häufig nur auf Basis der Krankheitssymptome durchgeführt zu werden, zumal man nur wissen muß, daß das aktuell vorliegende (biologische) Geschlecht wesentlich anders als das Wunschgeschlecht ist. Genaue Details über das Wunschgeschlecht braucht man nicht zu kennen, da das Ergebnis einer hormonellen oder operativen Therapie nicht genau voraussehbar ist.

Es kommt hierbei zu vielen Fehldiagnosen (natürlich auch zu erfolgreichen Therapien. Ein nicht unerheblicher Teil von (i.d.R. jüngeren) Transpersonen will ihre Transition später wieder rückgängig machen (s. z.B. Petter (2017), Lockwood (2019)). Malone (2019) argumentiert genereller, daß Transidentität i.w. eine falsche Diagnose von geschlechtsatypischem Verhalten ist, und zwar

  1. wegen zu restriktiven Vorstellungen, welche Verhaltensweisen gemäß dem biologischen Geschlecht zulässig sind (was der Feminismus an anderer Stelle unter dem Schlagwort "Aufbrechen von Geschlechterrollen" bekämpft)
  2. weil Anzeichen für Homosexualität fälschlich als Anzeichen für Transidentität interpretiert werden.
Herzog (2020) argumentiert in die gleiche Richtung. Shrier (2020a) identifizierte weitere soziale Faktoren, die das scheinbare stark vermehrte Auftreten von Transidentität, letztlich also Fehldiagnosen begünstigen.

Die Fehldiagnosen sind keine Überraschung, weil zwar oft argumentiert wird, die Transidentität hätte biologische Ursachen, zur Feststellung, ob Transidentität vorliegt, werden aber die sehr ungenauen und unzuverlässigen psychologischen Meßmethoden - i.w. Befragungen - benutzt.

Biologisch verursachtes Selbstkonzept
Viele Trans-Aktivisten vertreten die These, die sexuelle Identität sei analog zur sexuellen Attraktion durch die Gehirnstrukturen unabänderlich festgelegt und die durch das "falsche Geschlecht" ausgelöste Krankheit Geschlechtsdysphorie (gender dysphoria) sei nicht durch psychotherapeutische Maßnahmen lösbar, sondern nur durch Geschlechtsumwandlungen. Um die biologische Alternativlosigkeit zu betonen, werden oft Begriffe wie "Gehirngeschlecht" oder "Frauengehirn" benutzt (in einem anderen Kontext spricht z.B. auch Baron-Cohen (2006) von einem männlichen und einem weiblichen Gehirn). Motiviert ist diese These u.a. durch die Frage, ob die Krankenkassen die erheblichen Kosten von Transitionen, die medizinisch aufwendige, teure und teilweise sehr gefährliche Behandlungen umfassen, übernehmen.

Bei einer biologisch verursachten sexuellen Identität wären im Idealfall die biologischen Auslöser mit medizinischen Analysemethoden bestimmbar (auch wenn eine entsprechende Technik heute noch nicht verfügbar ist).

Das Gehirnstruktur-Argument ist indes beim heutigen Stand des Wissens nicht haltbar: Gehirnstrukturen sind zwar bei Männern und Frauen statistisch deutlich verschieden, und man kann Personen anhand von Gehirnaufnahmen fast fehlerfrei als Mann oder Frau klassifizieren. Viel mehr kann man aber nicht, insb. kann man nicht folgern, daß bestimmte Gehirnstrukturen ganz bestimmte psychische Dispositionen erzwingen. (Die These, daß die unterschiedlichen Gehirnstrukturen bei Männern und Frauen unterschiedliches Verhalten oder unterschiedliche intellektuelle Leistungen verursachen, wird übrigens bei anderen Persönlichkeitsmerkmalen heftigst bestritten. Hier liegt ein massiver innerer Widerspruch in den feministischen Argumentationen vor.)

Gegen eine biologisch verursachte sexuelle Identität sprechen mehrere Argumente:

  • Eine eigenständige sexuelle Identität hat keine biologische Funktion. Im einzigen Fall, wo sie erkennbar ist, nämlich bei Transidentität, dürfte sie evolutionär gesehen sehr kontraproduktiv für den Fortpflanzungserfolg gewirkt haben.
  • Die schon oben erwähnten zahlreichen rückgängig gemachten Transitionen sprechen dagegen.
  • In den letzten Jahren sind Fälle immer häufiger geworden, in denen Transidentität während oder nach der Pubertät ohne vorherige Anzeichen dafür auftrat, also innerhalb von Monaten entstand, während der Prozeß früher Jahre dauerte. Littman (2018) prägte für dieses Phänomen die Bezeichnung Rapid Onset Of Gender Dysphoria (ROGD), also schnell einsetzende Geschlechtsdysphorie.
  • Transidentität scheint "sozial ansteckend" zu sein. Wiederum Littman (2018) (s.a. Shrier (2020b)) untersuchte das Phänomen, daß sich zwischen 2016 und 2017 die Zahl der operativen Transitionen bei jungen Frauen vervierfacht hat und Frauen inzwischen rund zwei Drittel der operativen Transitionen ausmachen, während früher Jungen die Mehrheit bildeten. Betroffen waren häufig Mädchen im Bekanntenkreis von transidenten Mädchen, was bei einem zufälligen Auftreten vollkommen unwahrscheinlich ist und nur mit sozialen Einflüssen erklärbar ist.

    Sowohl das schnelle Einsetzen von Geschlechtsdysphorie als auch die "soziale Ansteckung" schließen biologische Ursachen aus und widerlegen zentrale Argumentationen von Transaktivisten. Littman wurde daher massiv angegriffen, s. Rapid onset gender dysphoria controversy.

Die drei letztgenannten Gegenargumente gegen die biologische Verursachung der Transidentität werden nur scheinbar dadurch entkräftet, daß es ich hierbei um Fehldiagnosen handelt. Daß ein großer Teil der Diagnosen mit Sicherheit oder wahrscheinlich falsch war, ist kein Beweis, daß die restlichen Diagnosen richtig waren, sondern untermauert nur empirisch die prinzipielle Unzuverlässigkeit aller Diagnosen.

Als Fazit kann man festhalten, daß es bisher keine überzeugenden Theorien gibt, daß sexuelle Identität im Sinne eines originären Persönlichkeitsmerkmals biologisch verursacht wird.

Psychisch verursachtes Selbstkonzept
Wenn man biologische Ursachen für die Empfindung bzw. den festen Willen, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, ausschließt, dann kann diese Empfindung ein originär psychisches Phänomen sein, genauso wie andere Aspekte des "Ichs" bzw. des Bewußtseins, für die man auch keine biologischen Ursachen unterstellt.

Unklar ist hier, ob der Wille, ein bestimmtes Geschlecht zu sein, sozusagen aus dem Nichts heraus entsteht - dies suggerieren die oben zitierten Definitionen mit undefinierte Begriffe wie "intrinsic / internal / basic sense" - oder ob es noch tiefer liegende psychische Dispositionen gibt, die diesen Willen verursachen. Unklar bleibt auch, wie dieser Wille oder seine tieferen Ursachen im Laufe des Heranwachsens entstanden sind, ob es sich um eine binäres oder graduelles Phänomen handelt und ob der Zustand änderbar ist.

Insgesamt bleiben rein psychische Ursachen für Transidentität hochgradig spekulativ.

Sozial verursachtes Selbstkonzept
Sexualität hängt fast immer mit sozialen Interaktionen zusammen. Daher ist es auch denkbar, daß die sexuelle Identität einer Person durch ihre sexualitätsbezogenen sozialen Interaktionen entsteht und ggf. verändert wird, so ähnlich wie eine Mode. Sie wird also sozusagen erlernt. Welche sozialen Interaktionen stattfinden, hängt dann auch von den verfügbaren Personen, Medienangeboten und -Konsum, Rollenmodellen usw. ab.

Daß die sexuelle Identität einer Person durch soziale Einflüsse beeinflußt wird - z.B. so sein zu wollen, wie eine gute Freundin oder ein mediales Rollenmodell -, ist plausibel. Die oben erwähnte "soziale Ansteckung" deutet ebenfalls darauf hin.

Völlig offen und unberechenbar bleibt hier allerdings, was als "Wunschgeschlecht", zu dem man ggf. transitionieren möchte, alles denkbar ist (sofern man nicht jedes Wunschgeschlecht auf männlich oder weiblich reduziert). M.a.W. bleibt der Geschlechtsbegriff im Satz "Ich bin ein X." völlig diffus oder wie man die X benennt.

Sexuelle Identität ist hier jedenfalls ein soziologischer Geschlechtsbegriff. Die Ausprägungen dieser Eigenschaft sind hier bestimmte soziale Interaktionsmuster (die anders als die Selbsteinschätzung der Person sein können).



Begriffskriege und Cancel Culture im Kontext der Transidentität

Die Schwierigkeiten, auf der Sachebene zu bestimmen, was "sexuelle Identität" oder Transidentität bedeutet, werden überlagert bzw. verschlimmert durch die massiven Attacken auf die Meinungsfreiheit infolge der heute vielfach hegemonialen Stellung von Transsexuellen-Aktivisten. Ein relativ bekanntes, symptomatisches Beispiel ist der "Skandal" um Joanne K. Rowling. Rowling hatte das Gerichtsurteil gegen Maya Forstater kritisiert, das die Entlassung von Forstater als rechtens beurteilte, weil Forstater der Meinung war, Trans-Männer seien biologisch Frauen. Rowling wurde daraufhin Ziel eines Shitstorms auf Twitter und von Schmähschriften der feministischen Presse.

Generell wird die öffentliche Äußerung trivialer biologischer Sachverhalte in diesem Themenkomplex mehr oder weniger scharf sanktioniert. Als Folge können Transsexuellen-Aktivisten teilweise haarsträubenden Unsinn verbreiten, ohne daß dem öffentlich widersprochen werden kann.

Spezielle Begriffskriege
Für Transidente ist es wichtig, ihre Zuordnung zu einem wahrgenommenen biologischen Geschlecht bei der Geburt als willkürlichen Akt und potentiell falsch hinzustellen, um die Geschlechtsumwandlung als eine Korrektur dieser Willkür verstehen zu können. Dies führte zu den inzwischen weit verbreiteten Formulierung, wonach einem frisch geborenen Kind bei der Geburt ein Geschlecht "zugewiesen" wird. Dies ist genauso absurd wie die Behauptung, dem Kind würde die Farbe seiner Augen von einem der Anwesenden "zugewiesen":
  • Der abstrakte und i.d.R. unbrauchbare Begriff "Geschlecht" wird benutzt, um eine Begriffsverschiebung von biologischem Geschlecht hin zu "Gender" im Sinn von sexueller Identität zu ermöglichen. Ziel hierbei ist, das biologische Geschlecht und dessen Auswirkungen komplett aus den politischen Debatten zu verbannen.

    Festgestellt wird bei der Geburt das wahrgenommene biologische Geschlecht. Dies ist ein objektives, korrektes Beobachtungsergebnis (genauso wie Körpergröße, Gewicht oder Augenfarbe), keine willkürliche und ggf. falsche Zuweisung. Selbst dann, wenn ein Kind aufgrund seiner biologischen Merkmale nicht eindeutig als Junge oder Mädchen klassifiziert werden kann, wird inzwischen die objektiv korrekte Angabe "divers" eingetragen.

  • Mit der Klassifizierung als Mädchen bzw. später als gebärfähige Frau ist eine Vielzahl von rechtlichen Privilegien verbunden. Insofern kann man hier von einem juristischen Geschlecht reden, das auf Basis biologischer Fakten festgestellt wird und nicht willkürlich zugewiesen wird.
  • Ein Geschlecht im Sinne einer sexuellen Identität kann nicht direkt nach der Geburt zugewiesen werden, weil ein Kind in diesem Reifestadium zu keinerlei intellektuellen Leistungen oder sexuellen Beziehungen imstande ist.


Literatur