Inhaltsübersicht
- Übersicht und Einordnung
- Sexuelle Identität - Grundlegende begriffliche Eingrenzungen
- Entstehung und zeitliche Entwicklung der sexuellen Identität
- Sexuelle Identität als originäres oder abgeleitetes Persönlichkeitsmerkmal
- Biologische, psychische bzw. soziologische Ursachen für das sexuelle Selbstkonzept
- Begriffskriege und Cancel Culture im Kontext der Transidentität
- Literatur
Übersicht und Einordnung
Unter sexueller Identität (synonym: sexuelles
Selbstkonzept, engl. gender identity) versteht
man, informell formuliert, das "Geschlecht", dem sich ein
Individuum selber zugehörig fühlt, als das es sich
empfindet.
Die sexuelle Identität ist im Gegensatz zum biologischen
Geschlecht nach der Geburt noch nicht vorhanden, sie
entsteht erst in den ersten Lebensjahren.
Die sexuelle Identität ist also eine geschlechtsbezogene
Eigenschaft von Menschen ab einem gewissen Alter,
genauer gesagt ein psychisches (bzw. mentales)
Geschlechtsmerkmal (im Gegensatz zu biologischen und
sozialen Geschlechtsmerkmalen).
Inhaltlich bzw. begrifflich gehört die sexuelle Identität
auch nach jahrzehntelangen Debatten zu den umstrittensten
und am schlechtesten verstandenen Begriffen. Hauptursachen
hierfür sind:
- Man kann psychische Zustände nicht direkt messen oder irgendwie objektiv feststellen. Man kann es noch nicht einmal selber von sich selbst, erst recht kann es ein Außenstehender nicht von anderen. Stattdessen schließt man oft vom Sozialverhalten oder erkennbaren Stimmungen einer Person auf deren Psyche zurück. Dabei man vermischt leicht psychische Geschlechtsmerkmale mit sozialen, insb. kulturspezifischen geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern. Diese sind aber mehr oder weniger erlernt und haben soziale Ursachen, also keine inhärent psychischen Ursachen.
- Sehr große definitorische Probleme verursacht die Transidentität (bzw. Transsexualität). Informell definiert wird Transidentität meist als Zustand, in dem die sexuelle Identität anders als das biologische Geschlecht (i.d.R. verstanden als der Phänotyp) ist. Diese Definition setzt aber eine Annahme voraus, die ganz gravierende Konsequenzen hat: Hierzu muß die sexuelle Identität ein selbständiger, vom biologischen Geschlecht unabhängiger "Trieb" sein, sozusagen ein aktives Bedürfnis. Um dessen Entstehung, Änderbarkeit und weitere Merkmale beschreiben zu können, braucht man einen eigenen, neuen Begriffsrahmen. Dieser Begriffsrahmen ist bei nichttransidenten Personen, also im 99,9%igen Normalfall, nicht sinnvoll anwendbar, weil dort die sexuelle Identität passiv aufgrund des eigenen Phänotyps gebildet wird.
Sexuelle Identität - Grundlegende begriffliche
Eingrenzungen
Ähnliche und verwandte Begriffe
Teilweise werden die Bezeichnungen Geschlechtsidentität
und sexuelle Orientierung für sehr ähnliche Phänomene
verwendet.
Die Bezeichnung sexuelle Orientierung wird meist
für einen umfassenderen Begriff verwendet, der neben der
sexuellen Identität auch die sexuelle Attraktion oder
sexuelle Praktiken beinhaltet. Wir verwenden i.f. nur die
Bezeichnung sexuelle Identität.
Manchmal wird auch der Begriff "Gender" als synonym zu
"sexuelle Identität" definiert.
Die sexuelle
Attraktion sehen wir, weil biologisches Merkmal,
hier nicht als Teil der sexuellen Identität an. Die sexuelle
Attraktion wie auch ggf. sexuelle Aktivitäten gelten als im
Prinzip unabhängig von der sexuellen Identität.
Transidentität und Transsexualität
Als transident bezeichnet man Personen, deren
sexuelle Identität nicht identisch mit ihrem wahrnehmbaren
biologischen Geschlecht (Phänotyp).
Meist, aber nicht immer, sind transidente
Personen, ausgehend von ihrer sexuellen Identität,
heterosexuell.
Die Bezeichnungen transsexuell und transgender
werden oft als Synonym zu transident benutzt, bedeuten aber,
soweit man dies im vorherrschenden Begriffschaos überhaupt
sagen kann, oft etwas anderes. Die Bezeichnung
"transsexuell" wird oft für Personen benutzt, die transident
sind und die eine Transition vorgenommen haben. Die
Bezeichnung "transgender" scheint in letzter Zeit
überwiegend als Synonym zu transident benutzt zu werden.
"Transgender" wird häufig, z.B. in der Wikipedia,
definiert als gender identity or gender expression that
differs from the sex that they were assigned at birth.
Diese Definition weist den gleichen Fehler auf die folgende
Definition eines Sonnenaufgangs: "Der Sonnenaufgang ist der
Moment bei der Umdrehung der Sonne um die Erde, wo die Sonne
über den Horizont aufsteigt". In der Definition versteckt
ist eine hochumstrittene bzw. falsche Annahme bzw. Aussage.
Der eigentliche Zweck der Definition besteht in der
Verbreitung dieser Falschaussage im Rahmen eines
Begriffskriegs, ist also Propaganda. Eine hochumstrittene
bzw. falsche Aussage ist hier "assigned at birth", also die
Behauptung, bei der Geburt würde ein Geschlecht
"zugewiesen". Eine Zuweisung ist ein willkürlicher Akt,
ähnlich wie eine Platzanweisung im Kino. Der zugewiesene
Wert braucht nicht korrekt zu sein, weil er auf einem
Machtgefälle basiert, kann also später als willkürlich
abgelehnt werden. Tatsächlich wird ein Neugeborenes nach der
Geburt anhand seines objektiv erkennbaren biologischen
Merkmale als biologisch männlich oder weiblich
klassifiziert, wenn dies eindeutig möglich ist, andernfalls
als "divers". Diese Klassifizierung ist nicht willkürlich,
sondern objektiv nachvollziehbar, sie kann auch nicht als
falsch, weil willkürlich, abgelehnt werden. Über das später
entstehende sexuelle Selbstkonzept ist damit nichts
ausgesagt.
Wenn man bei der Wikipedia-Definition und bei der obigen
informellen Definition genau hinsieht, erkennt man einen
gravierenden Kategorienfehler: das psychische Geschlecht
wird mit dem biologischen Geschlecht verglichen. Es werden
also Ausprägungen von zwei verschiedenen Begriffen
verglichen, wobei gar nicht klar ist, ob beide Begriffe die
gleiche Menge von Ausprägungen haben und, selbst wenn
einzelne Ausprägungen bei beiden Begriffen vorkommen, ob
diese Bezeichnungen das gleiche bedeuten (was sie i.a. nicht
tun oder zumindest unklar ist).
Die beiden vorstehenden Beispiele - Propaganda und
Kategorienfehler - zeigen, daß man bei Versuchen, Begriffe
wie Transidentität und Transsexualität auch nur grob und
informell einzugrenzen, nahezu zwangsläufig in
Begriffskriege involviert wird. Auf diese Begriffskriege
gehen wir weiter unten ausführlicher ein.
Innere Widersprüche und Inkonsistenzen
Einige Beiträge zur Debatte sind so eklatant falsch, daß wir
sie hier nur kurz erwähnen, aber i.f. nicht weiter
berücksichtigen. Auf die gravierenden definitorischen
Probleme, die gängige Definitionen von sexueller Identität
von Seiten von Trans-Aktivisten haben, gehen wir aus
Platzgründen unten separat ein.
Wie schon in diesem Comic thematisiert werden
häufig selbstgewählte Ausprägungen der sexuellen Identität
benutzt, z.B. agender oder neutrois, die
postulieren, daß diese Person im Prinzip gar keine sexuelle
Identität hat. Eine Ausprägung eines Merkmals kann
aber logisch nicht die Existenz diese Merkmals verneinen,
das ist ein innerer Widerspruch. Bestenfalls kann man die
Situation so interpretieren, daß die Person wünscht, daß
ihre sexuelle Identität unbekannt oder nicht feststellbar
ist, auch für sie selber, oder sie sich nicht entscheiden
kann.
Ähnlich verhält es sich mit "genderfluid" o.ä.
Selbstbezeichnungen, die postulieren, daß sich die sexuelle
Identität dieser Person nur für kurze Zeit stabil ist und
sich jederzeit ohne Vorwarnung ändern kann. In diesem Fall
ist jede Bestimmung der sexuellen Identität sinnlos, weil
man die Person nicht dauerhaft danach klassifizieren kann.
(Der Sinn von
Geschlechtsbegriffen besteht immer darin, Personen
anhand ihrer sexualitätsbezogenen Eigenschaften
klassifizieren und abhängig vom Geschlecht unterschiedlich
behandeln zu können!) D.h. die Information, daß diese
Merkmalsausprägung vorliegt, kann man für nichts gebrauchen,
denn im nächsten Moment kann sie schon wieder ungültig sein.
Damit wird auch das Merkmal "sexuelle Identität" sinnlos.
Diese impliziten Ablehnungen des Merkmals "sexuelle Identität"
deuten stark darauf hin, daß das Merkmal tatsächlich eine
Fehlkonstruktion, also keine valide Begriffsbildung ist.
Besonders problematisch wird dies, wenn links-grüne
politische Fraktionen fordern, den Schutz der sexuellen
Identität in Artikel 3 des Grundgesetzes aufzunehmen. Die
sexuelle Identität einer Person kann nicht geschützt werden,
wenn diese Person das Recht hat, keine sexuelle Identität zu
haben oder diese nicht zu offenbaren oder ständig zu ändern.
I.f. berücksichtigen wir die o.g. inkonsistenten Definitionen
nicht weiter.
Entstehung und zeitliche Entwicklung der sexuellen
Identität
Das Phänomen "sexuelle Identität" tritt bei allen Menschen
bei einer normalen sozialen Entwicklung ab einem gewissen
Alter auf, ist also mit dieser zeitlichen Einschränkung ein
generelles Merkmal von Menschen.
Die eigene Zuordnung zu einem wahrgenommenen biologischen
Geschlecht gilt als zentral für die
Persönlichkeitsentwicklung von Menschen. Sie setzt bereits
mit ca. 2 Jahren ein und zielt darauf, sich einem der
beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechter zugehörig
zu fühlen und Personen des "gleichen Geschlechts"
gegenüber mehr Gemeinsamkeiten zu empfinden als Personen
des "anderen Geschlechts". Die initiale Bildung eines
Selbstkonzepts ist mit ca. 4 Jahren, also lange vor der
Pubertät, weit fortgeschritten. Sie führt bereits in
diesem jungen Alter zu ersten Verhaltensdifferenzen den
beiden wahrgenommenen biologischen Geschlechtern gegenüber
(s. Klein (1999), Wagner (2013)).
Das eigene Geschlecht wird üblicherweise anhand des
wahrgenommenen eigenen biologischen Geschlechts bestimmt.
Die Kleinkinder selber können das bei sich selber, wenn wir
von kulturellen Markierungen absehen, äußerlich nur am
Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von Penis bzw. Scheide
festmachen, die anderen Geschlechtsmerkmale (Körpergröße,
Kraft etc.) sind bei Kindern noch wenig ausgeprägt. Diese
Körperregion ist aber in allen entwickelten Kulturen bei
Erwachsenen durch Kleidung verdeckt. Daher wird bei kleinen
Kindern die eigene Zuordnung zu einem der wahrgenommenen
biologischen Geschlechter erheblich durch Beeinflussung von
außen bestimmt und kann - bei entsprechend motivierten
Eltern - entgegengesetzt zum biologischen Geschlecht sein.
Erst mit höherem Wissensstand (ca. 7 - 10 Jahre Alter) und
deutlicher ausgeprägten Körpermerkmalen (spätestens mit
Eintritt der Pubertät) kann sich ein heranwachsendes Kind
selber einem der wahrgenommenen biologischen Geschlechter
zuverlässig zuordnen (s. Asendorpf / Neyer (2012), Kap. 7.2.3 Entwicklung
des Geschlechtsverständnisses).
Im Rahmen der Pubertät (ggf. schon vorher infolge von
Porno-Konsum) ändert sich die Menge der Konzepte, die mit
der sexuellen Identität verbunden sind, erheblich. Kleine
Kinder können Erwachsene anhand Stimmlage. Körpergröße und
-Form und weiteren wahrnehmbaren Merkmalen, ferner typischen
Verhaltensmustern leicht als Mann bzw. Frau klassifizieren,
mehr ist es aber nicht. Abgesehen von einigen
Verhaltensstereotypen bleibt die sexuellen Identität
inhaltlich relativ leer.
Nach der Geschlechtsreife kommen die vorher nicht vorhandene
sexuelle Attraktion und erste eigene sexuelle Erfahrungen
hinzu. Die Eigenschaft, ein Mann bzw. eine Frau zu sein, ist
nun mit einer bestimmten Funktion bzw. Rolle beim
Geschlechtsverkehr verbunden. D.h. inhaltlich wird die
sexuelle Identität mit sehr emotionalen Erlebnissen
verbunden. Ferner werden die biologischen Unterschiede
zwischen Männern und Frauen besser sichtbarer und mental
präsenter.
Wenn man also unter sexueller Identität nicht nur die bloße
Zuordnung zu einem Geschlecht versteht, sondern in einer
operationalen Sichtweise auch einen Vorrat an
Verhaltensweisen und Rollen, dann ändert sich dieser Vorrat
nach der Pubertät ganz erheblich. Anders gesagt ist ist die
sexuelle Identität erst nach der Pubertät vollständig
entwickelt.
Sexuelle Identität als originäres oder abgeleitetes
Persönlichkeitsmerkmal
Bei der Definition des Begriffs sexuelle Identität steht man
vor einer Frage, deren große Bedeutung u.U. erst auf den
zweiten Blick klar wird, nämlich ob die sexuelle Identität
- ein originäres Persönlichkeitsmerkmal, ein eigener "Trieb", ähnlich wie Linkshändertum, ist oder
- ein vom biologischen Geschlecht abgeleitetes, Persönlichkeitsmerkmal, das also nicht unabhängig vom biologischen Geschlecht ist und nicht frei gewählt wird.
Konsequenzen der Transidentität für den
Begriffsrahmen
Wenn man die sexuelle Identität als eigenen, vom
biologischen Geschlecht unabhängigen "Trieb" ansieht,
entstehen diverse neue Fragen, zu deren Beantwortung man
neue Konzepte, Mutmaßungen und Begriffe braucht:
- Die sexuelle Identität ist im Sinne eines sexuellen Selbstkonzepts eine Aussage über sich selber, z.B. "Ich bin eine Frau." oder allgemeiner "Ich bin ein X", worin X eine Geschlechtskategorie ist. Nun sind Geschlechtskategorien Ausprägungen von Geschlechtsbegriffen - auf welchen Geschlechtsbegriff wird hier Bezug genommen? Ein Geschlechtsbegriff und die jeweilige Liste seiner Ausprägungen ist immer auf einen bestimmten Anwendungskontext bezogen - auf welchen Anwendungskontext wird hier Bezug genommen und ist in diesem Anwendungskontext eine freie Wahl des Geschlechts zulässig? Bei Transidentität bleiben die Antworten auf diese Frage i.d.R. offen. Als Wunschgeschlecht werden ausschließlich "Mann" bzw. "Frau" verhandelt, aber keine anderen Ausprägungen der unterschiedlichen Geschlechtsbegriffe (Ausprägungen wie "nichtbinär" oder "fluid" wären logisch kaum vereinbar mit dem unbedingten Willen, ein ganz bestimmtes Geschlecht zu haben). "Mann" und "Frau" treten in fast allen Geschlechtsbegriffen als konkrete Ausprägung oder als Oberbegriff für mehrere Ausprägungen auf, haben also keineswegs überall die gleiche Bedeutung.
- Woher stammt die Erkenntnis in der Aussage über sich selber "Ich bin ein X"? Zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung entsteht die Erkenntnis? Kann sich diese Erkenntnis auch ändern (ähnlich wie eine Laune)? Damit zusammenhängende weitere Frage sind: Handelt es sich um eine konstante oder um eine zeitlich variierende Eigenschaft von Menschen (insb. nach der Pubertät)? Falls variierend, in welchen zeitlichen Abständen? Generell kommen als Antworten auf diese Fragen biologische, psychische und soziologische Ursachen infrage, die wir weiter unten diskutieren.
- Wie kann ein Außenstehender die sexuelle Identität einer Person bestimmen? In welchen Phänomenen bzw. Merkmalsausprägungen manifestiert sich die Zugehörigkeit zu dem gewünschten Geschlecht in für Außenstehende erkennbare Weise?
- Welche Handlungen oder Verhaltensweisen folgen aus dem Wunsch, einem bestimmten Geschlecht anzugehören? Bzw. genereller gesagt, welche operationalen Konsequenzen hat der Wunsch? Dies kann die Person selber betreffen, aber auch ihre Umwelt: Welche Forderungen werden an andere Personen bzw. die soziale Umwelt gestellt? (z.B. auf bestimmte Weise angesprochen oder behandelt zu werden)
Beispiele für an Transidentität bzw.
Transsexualität orientierten Definitionen von sexueller
Identität
Byrne (2019)
vergleicht im Detail mehrere Definitionen von sexueller
Identität, die von ausgewiesenen Autoritäten bzw.
Interessengruppen stammen:
- Die World Professional Association for Transgender
Health (WPATH) definiert "gender identity" in ihrem Standards of Care so:
A person's intrinsic sense of being male (a boy or a man), female (a girl or woman), or an alternative gender (e.g., boygirl, girlboy, transgender, genderqueer, eunuch).
-
Sally Hines, Professor für Soziologie bzw. Gender
Studies, definiert "gender identity" in einer Mongraphie so:
[gender identity] refers to each person's internal sense of being male, female, a combination of the two, or neither. It is a core part of who people know themselves to be.
- Die American Psychological Association (APA)
definiert in ihrem Report on Gender Identity and Gender Variance:
Gender identity refers to a person's basic sense of being male, female, or of indeterminate sex (Stoller, 1968).
Biologische, psychische bzw. soziologische Ursachen
für das sexuelle Selbstkonzept
Wir kommen hier auf die Frage zurück, woher eine Person zur
Erkenntnis bzw. Überzeugung kommt, einem bestimmten
Geschlecht X anzugehören. Die Ursachen können in der
Biologie, der Psyche und den sozialen Einflüssen liegen,
dementsprechend wäre die sexuelle Identität ein
biologischer, psychischer bzw. soziologischer
Geschlechtsbegriff.
Bei nichttransidenten Personen ist die Antwort trivial: der
Phänotyp bestimmt das Selbstkonzept. Bei Transidentität, die
wir i.f. unterstellen, sind mehrere Antworten denkbar, die
wir anschließend diskutieren.
Geschlechtsdysphorie (gender dysphoria)
Transidentität kann zu einem depressivem Krankheitsbild
führen, das als Geschlechtsdysphorie (gender
dysphoria oder gender identity disorder)
bezeichnet wird. Zu dessen Behandlung werden vielfach
Geschlechtsumwandlungen (Transitionen) vorgenommen. Dies
sind medizinisch aufwendige, teure und teilweise sehr
gefährliche Behandlungen, für die natürlich eine
ärztliche Diagnose notwendig ist.
Solche Diagnosen sind scheinbar ein Anlaß, die sexuelle
Identität, also das Wunschgeschlecht, einer betroffenen
Person zu bestimmen und Methoden zu entwickeln oder zu
verbessern, mit denen die sexuelle Identität oder zumindest
Ursachen für eine bestimmte sexuelle Identität bestimmt
werden können. Insofern ist die Kenntnis der Ursachen für
bestimmte sexuelle Selbstkonzepte auch von therapeutischem
Interesse, zumindest vordergründig.
Tatsächlich scheinen die Diagnosen sehr häufig nur auf Basis
der Krankheitssymptome durchgeführt zu werden, zumal man nur
wissen muß, daß das aktuell vorliegende (biologische)
Geschlecht wesentlich anders als das Wunschgeschlecht
ist. Genaue Details über das Wunschgeschlecht braucht man
nicht zu kennen, da das Ergebnis einer hormonellen oder
operativen Therapie nicht genau voraussehbar ist.
Es kommt hierbei zu vielen Fehldiagnosen (natürlich auch zu
erfolgreichen Therapien. Ein nicht unerheblicher Teil von
(i.d.R. jüngeren) Transpersonen will ihre Transition später
wieder rückgängig machen (s. z.B. Petter (2017), Lockwood (2019)).
Malone (2019)
argumentiert genereller, daß Transidentität i.w. eine
falsche Diagnose von geschlechtsatypischem Verhalten
ist, und zwar
- wegen zu restriktiven Vorstellungen, welche Verhaltensweisen gemäß dem biologischen Geschlecht zulässig sind (was der Feminismus an anderer Stelle unter dem Schlagwort "Aufbrechen von Geschlechterrollen" bekämpft)
- weil Anzeichen für Homosexualität fälschlich als Anzeichen für Transidentität interpretiert werden.
Biologisch verursachtes Selbstkonzept
Viele Trans-Aktivisten vertreten die These, die sexuelle
Identität sei analog zur sexuellen Attraktion durch die
Gehirnstrukturen unabänderlich festgelegt und die
durch das "falsche Geschlecht" ausgelöste Krankheit
Geschlechtsdysphorie (gender dysphoria) sei nicht
durch psychotherapeutische Maßnahmen lösbar, sondern nur
durch Geschlechtsumwandlungen. Um die biologische
Alternativlosigkeit zu betonen, werden oft Begriffe wie
"Gehirngeschlecht" oder "Frauengehirn" benutzt (in einem
anderen Kontext spricht z.B. auch Baron-Cohen (2006) von einem
männlichen und einem weiblichen Gehirn).
Motiviert ist diese These u.a. durch die Frage, ob
die Krankenkassen die erheblichen Kosten von Transitionen,
die medizinisch aufwendige,
teure und teilweise sehr gefährliche Behandlungen umfassen,
übernehmen.
Bei einer biologisch verursachten sexuellen Identität
wären im Idealfall die biologischen Auslöser mit
medizinischen Analysemethoden bestimmbar (auch wenn eine
entsprechende Technik heute noch nicht verfügbar ist).
Das Gehirnstruktur-Argument ist indes beim heutigen Stand
des Wissens nicht haltbar: Gehirnstrukturen sind zwar bei
Männern und Frauen statistisch deutlich verschieden, und man
kann Personen anhand von Gehirnaufnahmen fast fehlerfrei als
Mann oder Frau klassifizieren. Viel mehr kann man aber
nicht, insb. kann man nicht folgern, daß bestimmte
Gehirnstrukturen ganz bestimmte psychische Dispositionen
erzwingen.
(Die These, daß die unterschiedlichen Gehirnstrukturen bei
Männern und Frauen unterschiedliches Verhalten oder
unterschiedliche intellektuelle Leistungen verursachen, wird
übrigens bei anderen Persönlichkeitsmerkmalen heftigst
bestritten. Hier liegt ein massiver innerer Widerspruch in
den feministischen Argumentationen vor.)
Gegen eine biologisch verursachte sexuelle Identität
sprechen mehrere Argumente:
- Eine eigenständige sexuelle Identität hat keine biologische Funktion. Im einzigen Fall, wo sie erkennbar ist, nämlich bei Transidentität, dürfte sie evolutionär gesehen sehr kontraproduktiv für den Fortpflanzungserfolg gewirkt haben.
- Die schon oben erwähnten zahlreichen rückgängig gemachten Transitionen sprechen dagegen.
- In den letzten Jahren sind Fälle immer häufiger geworden, in denen Transidentität während oder nach der Pubertät ohne vorherige Anzeichen dafür auftrat, also innerhalb von Monaten entstand, während der Prozeß früher Jahre dauerte. Littman (2018) prägte für dieses Phänomen die Bezeichnung Rapid Onset Of Gender Dysphoria (ROGD), also schnell einsetzende Geschlechtsdysphorie.
- Transidentität scheint "sozial ansteckend" zu sein. Wiederum Littman (2018) (s.a. Shrier (2020b)) untersuchte das Phänomen, daß sich zwischen 2016 und 2017 die Zahl der operativen Transitionen bei jungen Frauen vervierfacht hat und Frauen inzwischen rund zwei Drittel der operativen Transitionen ausmachen, während früher Jungen die Mehrheit bildeten. Betroffen waren häufig Mädchen im Bekanntenkreis von transidenten Mädchen, was bei einem zufälligen Auftreten vollkommen unwahrscheinlich ist und nur mit sozialen Einflüssen erklärbar ist. Sowohl das schnelle Einsetzen von Geschlechtsdysphorie als auch die "soziale Ansteckung" schließen biologische Ursachen aus und widerlegen zentrale Argumentationen von Transaktivisten. Littman wurde daher massiv angegriffen, s. Rapid onset gender dysphoria controversy.
Psychisch verursachtes Selbstkonzept
Wenn man biologische Ursachen für die Empfindung bzw. den
festen Willen, ein bestimmtes Geschlecht zu sein,
ausschließt, dann kann diese Empfindung ein originär
psychisches Phänomen sein, genauso wie andere Aspekte des
"Ichs" bzw. des Bewußtseins, für die man auch keine
biologischen Ursachen unterstellt.
Unklar ist hier, ob der Wille, ein bestimmtes Geschlecht zu
sein, sozusagen aus dem Nichts heraus entsteht - dies
suggerieren die oben zitierten Definitionen mit undefinierte
Begriffe wie "intrinsic / internal / basic sense" - oder ob
es noch tiefer liegende psychische Dispositionen gibt, die
diesen Willen verursachen.
Unklar bleibt auch, wie dieser Wille oder seine tieferen
Ursachen im Laufe des Heranwachsens entstanden sind, ob es
sich um eine binäres oder graduelles Phänomen handelt und ob
der Zustand änderbar ist.
Insgesamt bleiben rein psychische Ursachen für Transidentität
hochgradig spekulativ.
Sozial verursachtes Selbstkonzept
Sexualität hängt fast immer mit sozialen Interaktionen
zusammen. Daher ist es auch denkbar, daß die sexuelle
Identität einer Person durch ihre sexualitätsbezogenen
sozialen Interaktionen entsteht und ggf. verändert wird, so
ähnlich wie eine Mode. Sie wird also sozusagen erlernt.
Welche sozialen Interaktionen stattfinden, hängt dann auch
von den verfügbaren Personen, Medienangeboten und -Konsum,
Rollenmodellen usw. ab.
Daß die sexuelle Identität einer Person durch soziale
Einflüsse beeinflußt wird - z.B. so sein zu wollen, wie eine
gute Freundin oder ein mediales Rollenmodell -, ist plausibel.
Die oben erwähnte "soziale Ansteckung" deutet ebenfalls darauf
hin.
Völlig offen und unberechenbar bleibt hier allerdings, was
als "Wunschgeschlecht", zu dem man ggf. transitionieren
möchte, alles denkbar ist (sofern man nicht jedes
Wunschgeschlecht auf männlich oder weiblich reduziert).
M.a.W. bleibt der Geschlechtsbegriff im Satz "Ich bin ein
X." völlig diffus oder wie man die X benennt.
Sexuelle Identität ist hier jedenfalls ein soziologischer
Geschlechtsbegriff. Die Ausprägungen dieser Eigenschaft sind
hier bestimmte soziale Interaktionsmuster (die anders als
die Selbsteinschätzung der Person sein können).
Begriffskriege und Cancel Culture
im Kontext der Transidentität
Die Schwierigkeiten, auf der Sachebene zu bestimmen, was
"sexuelle Identität" oder Transidentität bedeutet, werden
überlagert bzw. verschlimmert durch die massiven Attacken
auf die Meinungsfreiheit infolge der heute vielfach
hegemonialen Stellung von Transsexuellen-Aktivisten. Ein
relativ bekanntes, symptomatisches Beispiel ist der
"Skandal" um Joanne K. Rowling. Rowling hatte das
Gerichtsurteil gegen Maya Forstater kritisiert, das die Entlassung von Forstater als
rechtens beurteilte, weil Forstater der Meinung war, Trans-Männer seien biologisch Frauen.
Rowling wurde daraufhin Ziel eines Shitstorms auf Twitter
und von Schmähschriften
der feministischen Presse.
Generell wird die öffentliche Äußerung trivialer
biologischer Sachverhalte in diesem Themenkomplex mehr oder
weniger scharf sanktioniert. Als Folge können
Transsexuellen-Aktivisten teilweise haarsträubenden Unsinn
verbreiten, ohne daß dem öffentlich widersprochen werden
kann.
Spezielle Begriffskriege
Für Transidente ist es wichtig, ihre Zuordnung zu einem
wahrgenommenen biologischen Geschlecht bei der Geburt als
willkürlichen Akt und potentiell falsch hinzustellen, um die
Geschlechtsumwandlung als eine Korrektur dieser Willkür
verstehen zu können. Dies führte zu den inzwischen weit
verbreiteten Formulierung, wonach einem frisch geborenen
Kind bei der Geburt ein Geschlecht "zugewiesen" wird.
Dies ist genauso absurd wie die Behauptung, dem Kind würde
die Farbe seiner Augen von einem der Anwesenden
"zugewiesen":
- Der abstrakte und i.d.R. unbrauchbare Begriff "Geschlecht" wird benutzt, um eine Begriffsverschiebung von biologischem Geschlecht hin zu "Gender" im Sinn von sexueller Identität zu ermöglichen. Ziel hierbei ist, das biologische Geschlecht und dessen Auswirkungen komplett aus den politischen Debatten zu verbannen. Festgestellt wird bei der Geburt das wahrgenommene biologische Geschlecht. Dies ist ein objektives, korrektes Beobachtungsergebnis (genauso wie Körpergröße, Gewicht oder Augenfarbe), keine willkürliche und ggf. falsche Zuweisung. Selbst dann, wenn ein Kind aufgrund seiner biologischen Merkmale nicht eindeutig als Junge oder Mädchen klassifiziert werden kann, wird inzwischen die objektiv korrekte Angabe "divers" eingetragen.
- Mit der Klassifizierung als Mädchen bzw. später als gebärfähige Frau ist eine Vielzahl von rechtlichen Privilegien verbunden. Insofern kann man hier von einem juristischen Geschlecht reden, das auf Basis biologischer Fakten festgestellt wird und nicht willkürlich zugewiesen wird.
- Ein Geschlecht im Sinne einer sexuellen Identität kann nicht direkt nach der Geburt zugewiesen werden, weil ein Kind in diesem Reifestadium zu keinerlei intellektuellen Leistungen oder sexuellen Beziehungen imstande ist.
Literatur
- Jens B. Asendorpf, Franz J. Neyer: Psychologie der Persönlichkeit. 5., vollst. überarb. Aufl., Springer, ISBN 978-3-642-30263-3, 2012. https://www.springer.com/us/book/9783642302633
- Simon Baron-Cohen: Vom ersten Tag an anders. Das weibliche und das männliche Gehirn. Aus dem Englischen von Maren Klostermann. Wilhelm Heyne Verlag, München, 2006. https://www.amazon.de/Vom-ersten-Tag-anders-weibliche/dp/3453600053
- Alex Byrne: What Is Gender Identity? Arc, 09.01.2019. https://arcdigital.media/what-is-gender-identity-10ce0da71999
- Sally Hines: Is Gender Fluid? A Primer for the 21st Century. Thames & Hudson, 16.10.2018. https://www.thamesandhudsonusa.com/books/is-gender-flui ... ftcover
- Katie Herzog: Where Have All The Lesbians Gone? They're coming out as nonbinary or as men. The Weekly Dish, 27.11.2020. https://andrewsullivan.substack.com/p/where-have-all-the-lesbians-gone-0a7
- Lothar Klein: Die Schmetterlingsgruppe heißt jetzt Formel 1 Gruppe: Jungen auf der Suche nach der männlichen Geschlechtsrolle. Kindergarten heute 1999, Heft 3, S. 24-29, 1999. https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/bildungsb ... ung/436
- Lisa Littman: Parent reports of adolescents and young adults perceived to show signs of a rapid onset of gender dysphoria. PLOS One, 16.08.2018. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0202330
- Sally Lockwood: 'Hundreds' of young trans people seeking help to return to original sex. Sky, 05.10.2019. https://news.sky.com/story/hundreds-of-young-trans-peop ... 1827740
- William J. Malone, Colin M. Wright, Julia D. Robertson: No One Is Born in `The Wrong Body'. Quillette, 24.09.2019. https://quillette.com/2019/09/24/no-one-is-born-in-the-wrong-body/
- Olivia Petter: Gender reversal surgery is more in-demand than ever before. Independent, 03.10.2017. https://www.independent.co.uk/life-style/gender-reversa ... 16.html
- Abigail Shrier: Irreversible Damage: The Transgender Craze Seducing Our Daughters. Regnery Publishing, 30.06.2020. https://www.amazon.com/Irreversible-Damage-Transgender- ... 4510317
- Abigail Shrier: Discovering the Link Between Gender Identity and Peer Contagion. Quillette, 08.07.2020. https://quillette.com/2020/07/08/discovering-the-link-b ... tagion/
- Abigail Shrier: The Gathering Parent Horror at Public School. Newsweek, 16.10.2020. https://www.newsweek.com/gathering-parent-horror-public ... 1?amp=1
- Daniela Wagner: Geschlechtsidentität und Geschlechterrollen - Jungen und ihre Bezugspersonen im Sozialisationsprozess. 2013. https://kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psycholog ... ie/2294