Sonntag, 10. Januar 2021

Winterschule "Mediendemokratie", Folge 6: Der mediatisierte Staatsbürger


Die vorige Folge unserer Winterschule "Mediendemokratie" enthielt viel Journalistenschelte. Zwecks ausgleichender Gerechtigkeit werden in dieser Folge die Medienkonsumenten kritisiert, also der eigentliche Souverän der Demokratie, auch bekannt als Staatsvolk. Demokratie unterstellt vom Grundgedanken her aktive Staatsbürger, die sich in die die Debatten einbringen. Unsere Volksvertreter klagen indes regelmäßig über das Desinteresse dieser Bürger an der Politik, erkennbar an geringer Wahlbeteiligung und sinkenden Mitgliedszahlen in den Parteien. Das gemeine Volk interessiert sich eben mehr für solche Fragen wie Wer wird Millionär oder Welcher Fußballclub wird Herbstmeister? Die Dominanz solcher eher unpolitischen Interessen scheint eine Art Naturkonstante zu sein, denn schon im alten Rom wußten die Herrscher, nur eines ist wichtig, Brot und Spiele. So gesehen sind die heutigen Polit-Talkshows eigentlich nur die Gladiatorenkämpfe des Medienzeitalters: es gewinnt, wer die kernigsten Sprüche aufsagt, die anderen am meisten unterbricht und am besten geschminkt ist.

Um Verwechslungen vorzubeugen: es geht hier nicht um die prinzipielle Begrenzung der zeitlichen Kapazität des Bürgers, die Thema von Folge 2 war. Wir unterstellen, daß ein Mindestmaß an freier Zeit verbleibt, die man für "sichtbare" politische Debatten verwenden könnte.

Materialien

  1. [ca. 35 Minuten Lesezeit] Ein Klassiker unter den Büchern über die Wirkung von Fernseh-Medien auf die Bevölkerung ist Neil Postmans Wir amüsieren uns zu Tode (Amusing Ourselves to Death). Anstatt das ganze (z.T. veraltete) Buch zu lesen reicht uns hier eine ausführliche Zusammenfassung. Das Buch analysiert die Gegensätze zwischen einer vom Buchdruck und einer vom Fernsehen geprägten Gesellschaft. Buchdruck als Kommunikationsform ist sehr langsam, die schriftlichen, textuellen Darstellungen sind leicht zitierbar und fördern insofern als Denkstil gründliches Nachdenken und vertiefte Debatten. Fernsehen erlaubt eine extrem schnelle Kommunikation vom Sender zum Empfänger, es dominiert das Auge und die visuelle - vor allem bewegte - Darstellung, komplexe sprachliche Abstraktionen sind schwer vermittelbar und werden irgendwann auch nicht mehr vom Publikum erwartet. In den USA, auf die sich Postmans Analyse bezieht, gab und gibt es praktisch nur werbefinanziertes kommerzielles Fernsehen. Dessen Hauptziel ist, die Einnahmen zu optimieren, indem man Zuschauer gut unterhält - merke: Vergnügungssucht ist eine Naturkonstante -, d.h. alles wird der Logik der Unterhaltung unterworfen, auch Nachrichten. Postman benutzte hierfür den Begriff "Infotainment".

    Der Zwang zur Unterhaltsamkeit betrifft auch die politische Kommunikation (vgl. den Begriff Politainment) und reduziert sowohl die Fähigkeit als auch das Interesse daran, selber an politischen Debatten teilzunehmen.

    In Deutschland sind die Verhältnisse wegen des sehr stark ausgebauten ÖRR nicht ganz so schlimm, tendenziell aber ähnlich, zumal große Teile des ÖRR-Angebots dümmliche Unterhaltung ist. Ferner kann man argumentieren, Postmans Analyse aus den 1980ern sei überholt, denn mittlerweile sei das Fernsehen von internetbasierten Angeboten abgelöst worden. Die internetbasierten Angebote machen das Problem aber eher größer, weil sie das Angebot an (flacher) Unterhaltung noch mehr vergrößern

  2. [ca. 15 Minuten Lesezeit] Postman weist in Wir informieren uns zu Tode auf einen weiteren Effekt des Fernsehens, genauer gesagt sogar schon des Buchdrucks, hin. Die Informationsmenge explodiert regelrecht, dies führt zu einer Informationsüberflutung. Für Postman resultiert daraus ein Verlust an Kritikfähigkeit oder, anders gesehen, eine gefährliche Leichtgläubigkeit. Die heute grassierenden Verschwörungstheorien scheinen das zu bestätigen, insofern war Postmans Prognose Anfang der 1990er sehr weitsichtig.
  3. [ca. 30 Minuten Lesezeit] Die Analysen von Postman benennen zumindest qualitativ Gründe für die politische Abstinenz bzw. Politikverdrossenheit der Bürger. Quantitativ kann man mit Umfragen die Relevanz möglicher Gründe erforschen. 2013 führte die Bertelsmann Stiftung mit dem IfD Allensbach eine Umfrage nach den Gründen für das Desinteresse an Politik durch (Ergebnisse). Ende 2014, als die Medien wegen der Berichterstattung über die Ukraine allgemein kritisiert wurden, beauftragte das Magazin ZAPP des NDR Infratest dimap, das Vertrauen in Medien-Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt zu bestimmen. Die Ergebnisse waren sehr ernüchternd.

    Ein Jahr später veröffentlichte der Medienforscher Kleinert eine ausführliche Analyse der für das Desinteresse an Politik und den Einfluß der Medien dabei (Kleinert (2015)).

  4. [ca. 30 Minuten Lese- und Videozeit] Die vorstehenden Materialien haben sich aus mehreren Perspektiven mit der psychischen Befindlichkeit des Staatsbürgers befaßt - z.B. ob er durch Medienkonsum verdummt, verschüchtert, ermüdet oder (des-) interessiert wird. Zum Abschluß dieser Folge stellen wir eine wesentlich radikalere Frage: Wird die prinzipielle Denkfähigkeit des Menschen durch die Medien verändert? Dies hätte weitaus grundlegendere Konsequenzen als lediglich eine Ablenkung durch zu viel Unterhaltung. Es würde sich darauf auswirken, wie er über Politik denken oder über politische Themen debattieren kann und wie politische Inhalte kommuniziert werden müssen.

    Die prinzipielle Antwort auf die obige Frage ist "ja, weitaus mehr, als man denkt". Um das zu sehen, fangen mit einem "medialen Nullpunkt" an, einem Menschen (irgendwo in der Steinzeit), der über keine Medien, noch einmal über die Schriftsprache, verfügt. Kommunizieren kann er nur mündlich, das dafür mit der vollen Bandbreite sprachlicher und nichtsprachlicher Kommunikationsformen. Wissen kann nur durch Erinnern gespeichert werden. Von dieser Basis ausgehend waren bereits einfache Bilder an Höhlenwänden ein kleiner Fortschritt. Eine tektonische Verschiebung war dagegen die Erfindung der Lautschrift, namentlich des Griechischen. Er war auf einmal möglich, beliebige gesprochene Aussagen zu speichern und diese unabhängig von der Person aufzubewahren, zu kopieren und an andere Orte zu bringen. Dies ermöglichte völlig neue, sich entwickelnde Kommunikationsformen. Die geschriebene Sprache wurde selber zum Gegenstand von Strukturanalysen. Die resultierenden Grammatiken sind zunächst nur Versuche, die Strukturen einer gewachsenen Sprache zu beschreiben. Sobald man dies geschafft hat, wird eine Grammatik zum Hilfsmittel, die Struktur und Bedeutung von Texten genauer zu verstehen, die Grammatik wird zur Vorschrift. Zugleich wird es möglich, immer komplexerer Texte zu formulieren und zu verstehen. Die Fähigkeit zum logischen Denken und zur Bildung von Abstraktionen machte ungeheure Fortschritte. Der Kommunikationstheoretiker Herbert Marshall McLuhan erkannte, daß ein neues technisches Kommunikationsmedium funktional zu einem weiteren menschlichen Sinnes- und Kommunikationsorgan wird und die Benutzung bisheriger Sinnesorgane stark verändern kann. Ergebnis sind völlig neue Sprach-, Denk- und Kommunikationsstile.

    Ursprünglich war die Schriftsprache aufgeschriebene gesprochene Sprache. Diese Relation änderte sich im Laufe der Zeit grundlegend: Die gesprochene Sprache ist inzwischen im Prinzip vorgelesene Schriftsprache. Der Stil mag sich unterscheiden, aber die gesprochene Sprache befolgt alle wesentlichen Grammatikregeln der Schriftsprache.

    Die Kenntnis der Schriftsprache und die damit verbundenen kulturellen Errungenschaften waren sehr lange den Eliten vorbehalten. Die Erfindung des Buchdrucks machte die Schriftsprache für das gemeine Volk verfügbar. Nur wenige Generationen später begann das Zeitalter der Aufklärung, das man als logische Folge des Bildungsschubs durch den Buchdruck ansehen kann.

    Die nächste tektonische Verschiebung durch neue Medien war die Erfindung des Fernsehens und dessen massenhafte Verbreitung im Laufe der 1960er Jahre. Während gesprochene Sprache nur mir dem Ohr ausgenommen wird, werden durch das Fernsehen Auge und Ohr angesprochen. Da die visuelle Wahrnehmung beim Menschen ganz klaren Vorrang vor der akustischen hat, entsteht eine völlig neue (unidirektionale) Kommunikation auf Basis von Bildern (auch parallel durch die sich entwickelnde Fotografie). Die Effekte wurden u.a. in den Werken von Postman beschrieben, s.o. Die harsche Kritik von Postman an der Fernsehkultur und der beklagte Verlust der Qualitäten der Schrift- bzw. Buchkultur, die sich über Jahrhunderte entwickelt hatten, hängt auch damit zusammen, daß sich das Potential eines neuen Mediums erst im Laufe der Zeit entwickelt und herausstellt. In der Zeit, als Postman seine Bücher schrieb, war dieses Potential auch noch nicht erkennbar bzw. ausgeschöpft.

    Der rasche technologische Fortschritt führte ohnehin nur ca. eine Generation später zur nächsten tektonischen Verschiebung, der Erfindung der digitalen Informationsübertragung durch Rechnernetzwerke und die darauf basierenden Möglichkeiten, anfangs nur durch elektronische Post, später durch Messenger-Dienste bzw. Kurznachrichten (SMS), in Sekunden Informationen zu übertragen. Wie schnell sich in diesem neuen Medium eigene Sprachformen und Kommunikationsstile entwickelt haben (die für die ältere Generation zum inzwischen legendären Merkelschen Neuland gehören), erläutert der Linguist John McWhorter in einem sehr schönen TED-Vortrag.

    McWhorters Vortrag kann gut für ein kleines Selbstexperiment benutzt werden: er ist als Text und als Video verfügbar. Man kann sich selber beobachten, wie attraktiv man die beiden Formen findet, was man hinterher gelernt hat, ob man zentrale Aussagen wiederfindet und wie man sich Notizen dazu macht bzw. Einwände oder Kommentare anbringen kann.

    Wenn neue Medien, z.B. Kurznachrichten die private Kommunikation und Denkstrukturen verändern, dann muß sich die politische Kommunikation daran anpassen. Kurznachrichten wurden zum Markenzeichen eines gerade scheidenden Präsidenten. Die Messenger-Systeme bieten seit einiger Zeit auch den Versand von Audio- oder Videoclips an. Im Moment ist noch nicht erkennbar, daß sie die eigentlich umständlicher herzustellenden textbasierten Nachrichten verdrängen könnten. In ähnlicher Weise gilt dies für Podcasts, die vielfach als neues Medium zur Massenkommunikation hochgelobt werden, aber bisher nur in Nischen erfolgreich waren.

Quellen