Sonntag, 19. April 2020

Das Narrativ von der wissenschaftsbasierten Politik


Der Feminismus gilt u.a. deshalb als eine der großen Gefahren der Demokratie, weil er vielfach rationales, logisches Denken verneint und mit seiner Unwissenschaftlichkeit den demokratischen Debattenraum beschädigt. Nun stehen seit der Corona-Krise Naturwissenschaftler im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit, viele Beobachter sehen einen neuen Aufschwung und Bedeutungsgewinn der Wissenschaften, die seit langem von verschiedenen Seiten angegriffen werden. Markus Gabriel lästert gar über die von der Realität widerlegten feministischen Theorien, daß nur Sprache Realität schafft. Wenn diese Theorien stimmten, dann wären die Virologen schuld an COVID-19, weil sie diesen Begriff erfunden haben.

Den gleichen Eindruck vom Sieg der (Natur-) Wissenschaften vermitteln Äußerungen meinungsführender Politiker. Eine Besonderheit ist hier, daß die deutsche Politik aktuell vor dem Problem steht, dem Wahlvolk verständlich zu machen, warum sie zur Einschätzung der Gefährlichkeit der Corona-Epidemie und zu den notwendigen Maßnahmen heute so ziemlich das Gegenteil dessen erzählt und beschließt, was noch im Januar und Februar erzählt wurde.

Am 16.04.2020 verriet uns Ministerpräsident Söder im ZDF des Rätsels Lösung: Die Wissenschaft ist schuld. So direkt hat er es natürlich nicht ausgedrückt, sondern versteckt in einem Lob (natürlich für Bayern, sich selber und - in einem erstaunlichem Harmoniebedürfnis, das einem suspekt vorkommen sollte - auch für die Opposition):

Wir entwickeln uns ja auch täglich weiter. Manche Empfehlungen zu Beginn werden über neues Wissen über das Virus weiterentwickelt.
Söder und andere Politiker basteln hier ein Narrativ, das ungefähr so läuft: Die Politik bezieht von der Wissenschaft die Fakten, daraus leitet sie unter sorgfältigster Abwägung aller Aspekte die alternativlosen Maßnahmen ab. Die Presse macht ganz staatstragend mit bei der Lernkurve und kritisiert Herrn Söder und seine Kollegen lieber nicht beim Lernen.

Nun war leider das Wissen, wie gefährlich dieses Virus ist und welche Ausmaße eine Pandemie annehmen kann, schon im Januar alles andere als "neues Wissen". Wie u.a. hier ausführlich dargestellt, ist das Risiko einer von China ausgehenden Pandemie seit Jahren bekannt. Merkel ist von Bill Gates inständig vor diesem Risiko gewarnt worden. Länder wie Taiwan oder Experten wie Kekule haben sehr früh drastische Maßnahmen verlangt bzw. ergriffen. Jetzt so zu tun, als habe die Politik "zu Beginn" die falschen Fakten von der Wissenschaft (oder anderen unbekannten Quellen) erhalten, ist an Dummdreistigkeit kaum zu überbieten. Die Wissenschaft wird hier eher als Sündenbock vorgeführt, um vom eigenen Versagen abzulenken.

Wir haben hier also schon die ersten Wermutstropfen in der schönen Geschichte von der neuen Wissenschaftsbasierung der Politik.

Ein innerer Widerspruch

Söder produziert außerdem einen inneren Widerspruch, den die Moderatorin leider nicht aufs Korn nimmt (sofern sie ihn überhaupt bemerkt hat): Zwischen den Ministerpräsidenten der Länder scheint es deutliche Meinungsverschiedenheiten gegeben zu haben, wie die Lage zu beurteilen und was zu tun ist, obwohl der Kenntnisstand für alle gleich ist und sich die Länder nur in speziellen Aspekten bzgl. der Problemlage unterscheiden, auf die man speziell eingehen könnte. Söder verficht, irgendwie unbayrisch, einen besonders "vorsichtigen" Weg, er weiß jedenfalls sehr genau, was aus dem für alle gleichen Kenntnisstand folgt. Zugleich beteuert Söder, daß das Wissen unsicher und unvollständig ist:
Wir wissen an vielen Stellen nicht, was wir wissen möchten.
Wie paßt beides zusammen, unsicheres Wissen und angeblich eindeutig von diesem Wissensstand abgeleitete (besonders radikale) Maßnahmen? Je unsicherer das Wissen, desto weniger kann man große Kollateralschäden der Maßnahmen vertreten, eigentlich.

Das Märchen von der wissenschaftsgeleiteten Politik

Ehe wir hier nur über den armen Herrn Söder schimpfen (er steht hier nur stellvertretend für viele Politiker mit ähnlichen Ansichten), kommen wir besser zur generellen Frage, ob und wie wissenschaftliche Erkenntnisse denn überhaupt eine Basis für eine optimale Politik liefern können. Dies führt wieder zu Söders durchaus richtiger Einschätzung, daß man vieles gar nicht weiß oder nur so ungefähr weiß bzw. anders gesagt daß die Theorien, die die Probleme erklären und Ansatzpunkte für Maßnahmen liefern, leider nicht zuverlässig sind.

Wichtig ist hier die Beobachtung, daß das Wissen in manchen Wissenschaftsgebieten inhärent wenig zuverlässig ist. Die Soziologie, Psychologie und benachbarte Gebiete kämpfen seit langem mit einer Reproduzierbarkeitskrise. "Wissen" aus diesen Disziplinen wird explizit oder implizit in fast allen Ideologien und Politiken benutzt. Viel geglaubtes "Wissen" aus diesen Bereichen war und ist u.a. für den Feminismus grundlegend, war aber nicht reproduzierbar bzw. ist längst widerlegt worden. Das vorhandene Wissen betrifft übrigens überwiegend den status quo. Politik besteht aber oft darin, den status quo ändern zu wollen und hierzu bestimmte Maßnahmen einzusetzen, ketzerisch formuliert sich als Sozialingenieur zu betätigen. Man kann sehr zuverlässige Prognosen über die Funktion eines Getriebes oder eines Elektromotors machen, weil die zugrundeliegende Physik sehr genaue Modelle für die Funktion solcher Systeme liefert. Zuverlässige Prognosen über den Erfolg von sozialen Interventionen können die Soziologie, Psychologie und benachbarte Wissenschaften hingegen nicht liefern. D.h. selbst wenn man Politik wissenschaftsgeleitet gestalten wollte, hat man sehr häufig nicht das komplette, zuverlässige Wissen, das man dazu braucht.

Karl Popper prägte für das Problem, daß Forschungsergebnisse bzw. als "Fakten" angesehene Aussagen möglicherweise nicht völlig korrekt sind und man nie den Zustand völliger Perfektion erreichen wird, den Begriff der Wirklichkeits- bzw. Wahrheitsnähe (verisimilitude) des Wissens. Er sah es als zentral für eine offene demokratische Gesellschaft an, einen hohen Grad an Wahrheitsnähe des Wissens anzustreben bzw. zu erreichen. Davon sind wir in vielen Fachgebieten nicht nur wegen der inhärenten Probleme, zuverlässiges Wissen zu bekommen, weit entfernt. Schon den Willen dazu muß man bezweifeln.

Das bekannteste Beispiel sind die Gender Studies, die berüchtigt sind für ihre Unwissenschaftlichkeit und ihre knallharten Abwehrstrategien gegen Kritik (Kritik daran ist automatisch frauenfeindlich, weil ca. 95% der Gender-Forschenden weiblich sind und dies als Frauenförderung in der Wissenschaft verstanden wird). Ihre Rolle besteht darin, den feministischen Parteien eine "wissenschaftliche" Begründung für die Alternativlosigkeit ihrer Ideologie zu liefern, genau wegen dieser Rolle werden sie von den feministischen Parteien bedingungslos subventioniert und gegen Kritik geschützt. Im Moment läuft z.B. gerade, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, eine groß angelegte "ergebnisoffene Evaluation" der Gender Studies in Deutschland durch den Wissenschaftsrat. Genauer gesagt werden "Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Gender Studies in Deutschland" erarbeitet. Damit scheint schon einmal ein Ergebnis ausgeschlossen, nämlich die Gender Studies einzustellen oder stark zu reduzieren, das "weiter so", um nicht zu sagen "mehr davon" steckt schon fast im Evaluationsauftrag. Zumindest dürfte das die Erwartung von Katharina Fegebank (Grüne, Wissenschaftssenatorin in Hamburg) sein, die den Antrag beim Wissenschaftsrat gestellt hat. Träger des Wissenschaftsrats sind übrigens die Regierungen des Bundes und der Länder, sie üben direkt und indirekt erheblichen Einfluß auf die Beschlüsse des Wissenschaftsrats aus. Die Prognose erscheint plausibel, daß die "Evaluation" der Gender Studies genau die politische Macht des Feminismus widerspiegeln wird.

Fazit

Die Beraterrolle der Virologen und die Gender Studies waren zwei Beispiele, wo Wissenschaft mehr oder weniger stark instrumentalisiert wird, um politische Absichten zu unterfüttern. Man kann diverse weitere Beispiele finden, namentlich im Umweltschutz.

Den Optimismus von Markus Gabriel und anderen, die Politik würde als Folge der Corona-Krise künftig eine dominierendere Rolle als bisher spielen, kann ich leider nicht teilen. Hier wird mediale Präsenz in Polit-Talkshows verwechselt mit wirklicher politischer Macht, die man viel eher an staatlich finanzierten Infrastrukturen oder der Beherrschung der Medien erkennen kann.

Quellen