Sonntag, 25. Oktober 2020

Igor Levits Buschtrommel


Die Süddeutsche lese ich wegen ihrer notorischen feministischen Propaganda normalerweise nicht, wenn sie aber einmal etwas Interessantes publiziert, soll man es auch anerkennen. So mein Eindruck vor einigen Tagen bei der Lektüre von Mauró (2020), bevor dieser Text einigen Aufruhr im Blätterwald verursachte. Mauró kritisiert den Pianisten Igor Levit in musikalischer Hinsicht, dies kann und will ich nicht kommentieren (ich habe eine Allergie gegen klassische Musik und halte mich davon genauso fern wie von militärischer Marschmusik). Viel wichtiger als die Musikkritik fand ich die deutliche Kritik daran, daß ein Künstler seinen Ruhm, sprich seine mediale Reichweite, dazu mißbraucht, politischen Einfluß auszuüben. Noch etwas genauer gesagt legt der Artikel den Finger in die Wunde, daß ein guter Klavierspieler ein schlechter politischer Kommentator oder sogar ein aktives Mitglied eines Twittermobs sein kann. Musikalisch ausgedrückt: vom intellektuellen Niveau her gesehen spielt Levit in den sozialen Netzen teilweise auf der Buschtrommel, bis hin zu üblen verbalen Entgleisungen.

Nicht als Entschuldigung zählt, daß es auf Twitter gar nicht anders geht und daß es dort alle so machen. Niemand zwingt ihn dazu, sich an verbalen Prügeleien auf Twitter zu beteiligen (der Text von Mauró weist süffisant darauf hin, daß ein anderer berühmter Pianist auf Twitter in seinem Metier bleibt und sich lieber nicht blamiert).

Der Mauró-Artikel führte prompt zu einem Shitstorm gegen Mauró und die SZ, wie nicht anders zu erwarten, wenn man ein Mitglied eines Twitter-Mobs angreift. Die SZ reagierte darauf mit einer devoten Entschuldigung der Chefredaktion an Levit und die Leser, deren Gefühle womöglich verletzt worden waren. Damit adelte sie faktisch den Twitter-Aktivismus von Levit zu etwas Unantastbarem, dem sich Journalisten - zumindest in der SZ - unterzuordnen haben. Ähnliche Vorfälle hatten wir vor kurzem in der New York Times, sie führten zum Rücktritt von Bari Weiss. In ihrem Rücktrittsschreiben schrieb sie:

Twitter is not on the masthead of The New York Times. But Twitter has become its ultimate editor.
(Twitter steht nicht im Impressum der New York Times. Aber Twitter ist ihr ultimativer Herausgeber geworden.)

Das gleiche gilt offenbar für die SZ, zumindest solange der Twitter-Mob die gleiche politische Linie wie die leitenden Redakteure vertritt. Von außen ist nur schwer zu beurteilen, ob die SZ hier vom Twitter-Mob getrieben wird und die Chefredakteure mit ihrer Unterwerfungsgeste die Redaktion ideologisch einnorden wollen oder ob sie mit dem Twitter-Mob eine ideologische Symbiose bilden, in der der Mob fürs Grobe zuständig ist.

Alle sind gleich, aber manche sind eben gleicher

Was für den politischen Einfluß des Klavierspielers Levit gilt, gilt analog für Sportler, Köche, Jet-Setter, Influencer auf Twitter oder Facebook und beliebige andere Individuen mit hoher medialer Reichweite, deren Reichweite aber nicht auf einer politischen Qualifikation oder politischen Verdiensten beruht. Levit ist sogar nur ein kleiner Fisch gegenüber Stars wie Beyoncé, die in ihrem legendären Auftritt in den MTV Video Music Awards platte, aber enorm wirksame Propaganda für den Feminismus machte.

Demokratietheoretisch betrachtet stehen wir vor dem Problem, daß zwar alle Bürger gleichberechtigt darin sind, ihre Meinung zu äußern und in dem legendären demokratischen Debattenraum mitzumischen, daß aber nicht alle gleiche Chancen (im Sinn von Reichweite) haben und daß vor allem die Qualität der Argumente nicht mit deren Reichweite korreliert.

Das Konzept eines öffentlichen Debattenraums in einer liberalen Demokratie basiert aber auf der Grundannahme, daß in dem Prozeß der Meinungsbildung die besten Argumente und die qualifiziertesten Debattenteilnehmer die meiste Resonanz, sprich Reichweite erhalten werden und letztlich die öffentliche Meinung dominieren. In einer etwas moderneren Fassung nennt man diesen Effekt auch Schwarmintelligenz. Diverse altbekannte Propaganda-Techniken und neuerdings die Cancel Culture zielen darauf, diesen Prozeß zu unterbinden oder zu stören und in diesem Sinn den Debattenraum zu deformieren [1].

Musiker als soziale Gruppe und demokratischer Störfaktor

Es ist inzwischen Allgemeinwissen, daß man die Politikjournalisten als eigene soziale Gruppe mit ihrer eigenen internen Dynamik verstehen muß und daß diese soziale Gruppe eine erhebliche (grün/feministische) Schlagseite im öffentlichen Debattenraum verursacht.

Musiker bilden ebenfalls eine soziale Gruppe mit etablierten Kommunikationskanälen und einer starken internen Dynamik und Gruppenzwängen. Diese Gruppe verursacht ebenfalls eine feministische Schlagseite im öffentlichen Debattenraum, die ähnlich gravierend wie die von den Politikjournalisten verursachte sein dürfte und wohl einer der am meisten unterschätzten bzw. übersehenen antidemokratischen Einflußfaktoren ist.

Der direkte Einfluß von Stars wie Beyoncé ist kaum zu übersehen. Dabei ist Beyoncé nur der Gipfel eines Eisbergs, es lassen sich leicht Dutzende weitere Stars finden, die in ähnlicher Weise feministische Propaganda betreiben. Eine feministische Haltung ist nachgerade Pflicht unter den Künstlern in einer Altersklasse bis ca. 30 Jahre, die überwiegend Jugendliche und Heranwachsende bedienen. Für diese Musikkonsumenten sind die Erforschung der eigenen Sexualität und das Austesten von Grenzen zentrale Themen. Nicht umsonst handeln unzählige Hits von der Liebe und ähnlichen Themen. Künstler, die Mitglieder sexueller Minderheiten sind, genießen überproportional viel Aufmerksamkeit, weil sie exotischer sind und stellvertretend für "Normalos" Grenzen austesten.

Die mediale Reichweite von Künstlern und ihr politischer Einfluß ist nicht durch besondere Kompetenz gerechtfertigt. Künstler bilden ein atypisches Milieu, können ihre subjektiven Erfahrungen also nicht valide verallgemeinern, arbeiten vor allem mit Emotionen und Geschichten, nicht mit Statistiken oder soziologischen Analysen, haben genug zu tun mit der Beherrschung ihrer Instrumente bzw. ihrem Hauptberuf und haben von fast allen politischen Sachthemen nicht mehr Ahnung als Max Mustermann. Abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen (am ehesten noch Kabarettisten) sind es keine halbwegs ernstzunehmenden Philosophen oder politischen Kommentatoren.

Einen erheblichen indirekten Einfluß haben Musiker als feministisch/woke Lobbygruppe wahrscheinlich auf dem Umweg über die großen Unternehmen als Arbeitgeber. Sichtbar geworden ist die Ideologisierung von Arbeitgebern vor allem bei den Tech-Giganten Facebook, Twitter usw. schon vor einigen Jahren, u.a. durch die Damore-Affäre. Diese Plattformen betreiben mittlerweile eine massive Zensur zugunsten feministischer bzw. woker Ideologien und verpflichten ihre Angestellten auf diese Ideologien, haben sich also zu eine der größten direkten Gefährdungen der Demokratie entwickelt. Als eine wesentliche Ursache für die Ideologisierung der Unternehmen gilt deren relativ junge Belegschaft und die massive Einflußnahme von Aktivisten in den Unternehmen, bis hin zum Mobbing und Canceln aller Andersdenkenden. Amerige (2019) stellt am Beispiel von Facebook die woke/feministische Kaperung und die Entstehung einer politischen Monokultur als Insider ausführlich dar. Speziell der Generation Z wird nachgesagt, vom Arbeitgeber politisches Engagement verlangen, natürlich im Sinne der eigenen Ideologien. Diese wiederum wurde stark durch Jugendkulturen und die Meinung der Musik-Stars geprägt [2]. Künstler wie David Bowie oder Madonna haben aber auch schon die Generation davor in ähnlicher Weise beeinflußt.

Das genaue Ausmaß, wie Musiker als soziale Gruppe den Debattenraum deformieren, ist schwer einzuschätzen, das wäre ein Thema für die Musiksoziologie.

Verdienstkreuz für die Verengung des Debattenraums

Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls die Levitsche Buschtrommelei nur ein kleiner Mosaikstein einer viel umfassenderen, grundsätzlich problematischen Entwicklung. Daß sie jetzt mit dem Verdienstkreuz geadelt wird (neben seinen "Corona-Hauskonzerten", die etwas kategoriell anderes sind), ist ziemlich fragwürdig:
  • Man stärkt hier die Rolle von Twitter und anderen (a)sozialen Plattformen in den öffentlichen Debatten. Man kann in 140- oder 280-Zeichen-Häppchen, die ggf. im Minutentakt abgeschossen werden und im Spam versinken, keine sinnvollen politischen Debatten führen.
  • Die politische Bedeutung von Pop- und Musikstars wird noch mehr verstärkt, obwohl es ein sehr spezielle demographische Gruppe ist, deren durchschnittliche politische Urteilskraft beschränkt sein dürfte.
  • Die Reichweite von Levit hängt offenbar damit zusammen, daß er gute Beziehungen zu führenden (Haltungs-) Journalisten hat, fleißig für die eigene Twitterblase Werbung macht, regelmäßig Luisa Neubauer und andere FFF-Ikonen promoted usw. Im Endeffekt kämpft er vor allem für die gängige Orthodoxien und Mainstream-Narrative [3]. D.h. man kann ihn als Teil der Kräfte ansehen, die heute den Debattenraum und das Meinungsspektrum verengen, also für ein gesellschaftliches Problem sorgen.

Was tun?

An der direkten und indirekten Beschädigung des Debattenraums, die von aktivistischen Musikern bzw. Künstlern ausgeht, wird man so schnell nichts ändern können. Man kann aber klein anfangen und die Levitsche Buschtrommelei als das erkennen und öffentlich kritisieren, was sie ist: ein Mißbrauch einer medialen Machtposition mit "Debattenbeiträgen", die man in anderen Kontexten als billige Parteipropaganda klassifizieren würde.

Anmerkungen

[1] Der Debattenraum wird von diversen Seiten aus bedroht, beispielsweise durch die Zensur, die die Tech-Giganten ausüben, s. Ferguson (2020) für eine ausführlichere, sehr lesenswerte Darstellung. Diese Bedrohungen haben unterschiedliche strukturelle Ursache und müssen daher auch separat analysiert und bekämpft werden.

[2] Daneben spielen natürlich auch andere Faktoren eine Rolle. Oft genannt wird die Indoktrinierung in den Schulen und Universitäten. Wie sich die diversen Faktoren bei einer einzelnen Person auswirken, hängt vom Musikkonsum und vom sozialen Umfeld, darunter die Schule und deren Lehrer, ab. Letztlich ist es kaum möglich, den Einfluß einzelner Faktoren bei einer einzelnen Person oder sogar einer Bevölkerungsgruppe genau zu quantifizieren.

[3] Andernfalls wäre er kaum für das Verdienstkreuz infrage gekommen. Ein Albrecht Müller, der das Verdienstkreuz für die Nachdenkseiten eher verdient hätte, wird es wohl nie bekommen. Symptomatisch ist die Verleihung des Verdienstkreuzes an Mai Thi Nguyen-Kim, die dank ihres Edutainments fast eine Million Abonnenten auf Youtube hat und die kürzlich anregte, abweichende Expertenmeinungen zu zensieren.

Quellen