Sonntag, 26. März 2017

Die Postfaktizität des Martin Schulz

Inhaltsübersicht

Als postfaktische Politik wird schlagwortartig ein politisches Denken und Handeln bezeichnet, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen. Die Wahrheit einer Aussage tritt dabei hinter den emotionalen Effekt der Aussage vor allem auf die eigene Interessengruppe zurück.
https://de.wikipedia.org/wiki/Postfaktische_Politik
Die Tagesschau berichtet heute über die zentralen konkreten Vorhaben, die SPD-Kanzlerkandidat Schulz in den ersten 100 Tagen angehen will, sollte er denn Kanzler werden: "Managergehälter begrenzen, Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern abbauen, die EU stärken". Daß sich Herr Schulz Sorgen um die Einkünfte "seiner Töchter" macht, hat er schon vor kurzem tiefbewegt und sorgenschwer auf Twitter verlautbart:
Unsere Töchter bekommen im Schnitt 21 % weniger Gehalt als unsere Söhne. Wir brauchen Lohngerechtigkeit! Das ist eine Frage des Respekts.
18. März 2017
Diesem Appell an die Menschlichkeit und GG Art. 1 könnte man jetzt auf der Sachebene antworten und Herrn Schulz darauf hinweisen, daß seine Aussage objektiv falsch ist, sofern er nicht schon mit ca. 18 Jahren Vater geworden ist. Nach einer auch von der SPD vielzitierten Publikation des Statistischen Bundesamts beträgt selbst das unbereinigte Gender Pay Gap (GPG) für die Altersklassen
  • 24 Jahre und jünger: 2,0 %,
  • 25 bis 29 Jahre 8,5 %,
  • 30 bis 34 Jahre 14,2 %
(s. S.32 in Finke (2010)). Das GPG wird nämlich weit überwiegend von Leuten wie Herrn Schulz selber (!) produziert, die das 3- bis 5-fache wie ihre zuverdienende Ehefrau verdienen. Ab einer Altersklasse von 55 Jahren liegt das GPG bei fast 30%. Herr Schulz könnte also am meisten für mehr Geschlechtergerechtigkeit tun, indem er sofort zurücktritt und seinen Posten einer möglichst jungen Frau übergibt...

Man könnte auch noch darauf hinweisen, daß professionelle Statistiker das unbereinigte GPG als "Unstatistik" ansehen und daß halbwegs aufgeklärte Menschen allenfalls noch über das bereinigte GPG diskutieren. Aber das wäre langweilig, nachdem das GPG seit Jahren medial durchgekaut ist, und würde die Spielregeln der postfaktischen Politik verletzen, was unfair wäre. Zumal wir uns im Wahlkampf befinden, da versprechen sowieso alle Parteien das Blaue vom Himmel.

Die Botschaften von Martin Schulz
Gemäß dem Kommunikationsquadrat von Friedemann Schulz von Thun dient Kommunikation nicht nur der Nachrichtenübermittlung, sondern auch der Selbstoffenbarung, also der Selbstdarstellung des Sprechers. In Wahlkampfzeiten ist das womöglich der einzige Sinn von Kommunikation. Was offenbart Martin Schulz also mit seinem Tweet und seinem 100-Tage-Programm über sich?
  1. daß er gemäß dem üblichen männlichen Beschützerinstinkt als edler Ritter immer auf Seiten der Frauen kämpfen wird
  2. daß ihm seine Söhne suspekt sind, weil sie zuviel verdienen
  3. daß er ein guter Feminist ist und jegliche feministische Propaganda kritiklos übernimmt
  4. daß er ein sog. mathematischer Analphabet ist; als Zahlenanalphabetismus (bzw. Innumeracy) bezeichnet man das Unvermögen, zahlenmäßig dargestellte Sachverhalte zu verstehen
  5. daß er die jahrelange Diskussion um die Ursachen des GPGs nicht mitbekommen und/oder verstanden hat und ähnlich wie Kreationisten nicht mehr zugänglich für rationale Argumente ist.
Nun sind diese Selbstoffenbarungen nicht alle vorteilhaft, der Effekt hängt ab vom Empfänger der Botschaft:
  • Der Zahlenanalphabetismus und das Argumentieren mit dem unbereinigten GPG gilt in vielen Kreisen als dümmstmöglicher Populismus, mit dem man sich nur blamieren kann.
  • Bei anderen Innumeraten kann es hingegen ein Gefühl der Gemeinsamkeit und des liebevollen Verständnisses erzeugen.
Je nach der Häufigkeitsverteilung der beiden Empfängertypen in der Wählerschaft kann der Gesamteffekt also positiv oder negativ sein. Herr Schulz will sicherlich einen positiven Gesamteffekt erzielen, seine Selbstdarstellung verrät daher viel über seine Einschätzung der typischen mathematischen Kompetenzen seiner Wähler.
Postfaktische Politik
... ist, wie schon erwähnt, politisches Denken und Handeln, bei dem Fakten nicht im Mittelpunkt stehen. Womöglich sind auch die Selbstoffenbarungen von Herrn Schulz nicht ganz faktengetreu, es ist alles andere als klar, daß Herr Schulz wirklich so mathematisch unbegabt ist, wie er sich darstellt. Zumal wir uns in der Ära eines Donald Trump befinden, dessen Erfolgsrezepte gerne kopiert werden.

An der medialen Kunstfigur "Martin Schulz" wirkten laut Focus schon in Brüssel fünf Pressesprecher, zwei Protokollanten und ein Redenschreiber aus einem Team von insg. 33 persönlichen Assistenten mit. Die SPD-Zentrale dürfte auch noch mitgeholfen haben. Es ist schwer vorstellbar, daß die aktuellen Äußerungen von Schulz nicht mit der Parteizentrale abgesprochen sind und man sich keine Gedanken über den erhofften Gesamteffekt auf die Wählerstimmen gemacht hat. Unter dieser Annahme geht die SPD offenbar davon aus, überwiegend Zahlenanalphabeten und masochistisch veranlagte Söhne, die es gut finden, weniger zu verdienen, in ihrer Wählerschaft zu haben. Das ist ein politisches Denken und Handeln, bei dem so einige Fakten in der aktuellen politischen Landschaft verdrängt werden und das sozusagen in einer anderen Dimension postfaktisch ist:

  • Die SPD scheint davon auszugehen, daß ihr die Benutzung von Fake-Statistiken und der erwünschte männliche Masochismus von den anderen Parteien nicht vorgehalten und als Wahlkampfmunition gegen sie verwendet wird. Bei den Grünen ist diese Annahme sicher richtig, mit den Grünen tritt sie eher in eine Bieterkonkurrenz bzgl. feministischer Wohltaten.

    Bei allen anderen Parteien ist dies sehr fraglich. Zumindest die FDP hat schon in NRW heftig gegen die feministische Politik opponiert, wenn auch erfolglos. Die AfD wird sich erst recht nicht diese Steilvorlage entgehen lassen, Martin Schulz als Heilsbringer zu dekonstruieren.

  • Schwer einzuschätzen ist die Wirkung der nicht-mainstream Medien, darunter die Blogosphäre und die großen Zeitschriften-Foren. Dort wird der Populismus von Schulz bzw. der SPD mit Sicherheit benannt und scharf angegriffen werden. Eventuell versucht die SPD auch hier, von Trump zu lernen, der seinen Wahlkampf weitgehend auf das reichweitenstarke TV konzentriert hatte und der in den neuen Medien mit Ausnahme von Twitter wenig präsent war. Wenn Herr Maas es noch rechtzeitig hinbekommt, per Gesetz jegliche Feminismuskritik im Internet als Haßsprech zu kriminalisieren, wäre das Problem sogar aus der Welt geschafft.

    Wir sind hier aber nicht in den USA. Mit feministischen Wohltaten kann man allenfalls in unserer gutbürgerlichen sozialen Mitte punkten, die ist anders zusammengesetzt als die Wählerschaft von Trump. In dieser Wählerschicht ist es gefährlich, als Imitator von Trump, Linkspopulist und Diskursverweigerer dazustehen.

  • Wenn man sich die Tweets von Martin Schulz ansieht und dort diejenigen mit programmatischen Aussagen herausfischt (neben Grüßen an liebe Parteigenossinnen), dann dominieren mit Abstand zwei Themen: mehr Gewerkschaften und mehr Feminismus, dort speziell der Kampf gegen das GPG. Dabei ist die "Entgeltgleichstellung" (im lex Schwesig) de facto ein Trojanisches Pferd, das in erster Linie die Macht von Betriebsräten und Gewerkschaften stärken soll. Das GPG ist nur ein Vorwand, es kann mit der lex Schwesig prinzipiell nicht reduziert werden. Dazu passend sollen als allererstes die Managergehälter begrenzt werden. Die SPD macht sich damit zumindest auf Twitter optisch zu einer ein-Thema-Partei: Gewerkschaftsmacht und Umverteilung.

    Ob sie mit diesem Themenschwerpunkt die aktuellen Sorgen und Interessen der breiten Bevölkerung trifft, wage ich zu bezweifeln.