#Aufschrei - eine Kurzanalyse

Inhaltsübersicht

#Aufschrei - eine Kurzanalyse

Die Lage

Die Aufschrei-Kampagne war das mediale Großereignis Anfang 2013. Die zugehörigen Talkrunden und Meinungsäußerungen sind kaum noch überschaubar. Praktisch alle Medien engagieren sich im Kampf gegen die Landplage. Wahlweise berichten "Tausende Frauen über ihre Erfahrungen von Alltagssexismus" (Domscheit-Berg) oder es nutzen sogar "Zehntausende von Frauen [den] Anlass für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung". In einem Interview auf SPIEGEL ONLINE wird angedeutet, daß fast alle Tweets von mehr oder weniger großem persönlichen Leid zeugen:
SPIEGEL ONLINE: Frauen berichten in 140 Zeichen über die Anzüglichkeiten ihrer Chefs, Anmachversuche in der U-Bahn oder gar sexuelle Übergriffe. Welche Tweets haben Sie bisher am meisten bewegt?
Anne Wizorek: Die bewegen mich alle, auch wenn sie unterschiedlich schlimme Erlebnisse schildern. Was sehr deutlich wurde, ist, dass viele schon in sehr jungen Jahren in ihrem Selbstvertrauen erschüttert werden.
Die Angaben über die Zahl der Tweets schwanken zwischen 60.000 und 90.000, es deutet sich an, daß der tägliche Sexismus nachgerade epidemische Ausmaße hat.

Irritierend bleibt nur, daß selbst bei einer flüchtigen Inspektion nicht zu übersehen ist, daß die meisten Tweets keineswegs schlimme Erlebnisse schildern, sondern meistens Belanglosigkeiten oder sogar antifeministische Aussagen enthalten.
Eine kurzzeitig bekannt werdende Gruppe feministischer Aktivisten plant, die Daten statistisch zu analysieren, hat aber offensichtlich nach kurzer Zeit aufgegeben und sich aufgelöst.
Ein Medienhaus veröffentlicht Mitte Februar eine Kurzanalyse auf Basis einer Stichprobe von 200 Tweets, die zu vernichtenden Ergebnissen kommt, entfernt diese Analyse aber kurze Zeit später ohne Begründung von seiner Webseite.

Die sich aufdrängende Frage, wieviel tausend Frauen denn wirklich über ihre Erfahrungen von Alltagssexismus berichtet haben, kann offenbar bisher (Juni 2013) niemand beantworten.

Die Kurzanalyse

Um wenigstens ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen wird hier eine eigene Kurzanalyse vorgestellt.

Datenbasis

Basis ist ein Protokoll der Tweets zwischen Freitag, 25.01. 11 Uhr, und Montag, den 28.01.2013, das auf https://www.soviet.tv bereitgestellt wurde. Es enthält 58027 Tweets.

Analyse der Autoren

Die Tweets haben, wenn man sowohl den Namen wie das Icon für die Person als Identifizierung wählt, 17836 verschiedene Autoren. Wählt man nur den Namen oder nur das Icon als Identifizierung, sinkt die Zahl der Autoren auf 16839 bzw. 16884. Der Realität am nächsten dürfte die Zahl 17836 kommen.

Bei 17836 Autoren hat jeder Autor durchschnittlich 3.25 Tweets verfaßt. 23 Autoren haben 100 oder mehr Tweets verfaßt, weitere 57 zwischen 50 und 99 Tweets. Die 20 fleißigsten Autoren waren:

  1. 340 Julia S
  2. 238 micori
  3. 227 Sphoenix
  4. 215 Fließendes Gewander
  5. 187 Erica
  6. 185 Blawpp
  7. 181 coworkingszene
  8. 181 Katrina Reichert
  9. 180 Petra Raab
  10. 164 tanto sospirati
  11. 164 David Lightman
  12. 140 somlu
  13. 133 Wildkatze
  14. 132 Aki Alexandra Nofftz
  15. 129 django
  16. 128 hdb
  17. 127 Christina Leitow
  18. 119 Loretta Croco
  19. 117 sexismusimalltag
  20. 115 Robert Paulson
Auf den hinteren Plätzen der Autorenhitparade findet man ferner die meisten bekannten Namen der Kampagne mit einer 2-stelligen Anzahl an Tweets:
  • 62 ursula bub-hielscher
  • 53 Julia Seeliger
  • 45 anke domscheit-berg
  • 45 frequenzen
  • 38 Antje Schrupp
  • 32 anne wizorek
  • 23 fröken von Horst
Wenn man männliche Vornamen oder entsprechende Namensbestandteile als Indikator heranzieht, sind ca. ein Viertel der Autoren männlich. Hinzu kommen viele Benutzer, deren Namen zwar kein Geschlecht erkennen läßt ("schockinAffairs"), deren Äußerungen aber einen männlichen Standpunkt erkennen lassen. Die tatsächliche Männerquote dürfte daher in der Nähe von 30% liegen.

Von "Zehntausenden" die gesellschaftliche Auseinandersetzung suchenden Frauen kann definitiv keine Rede sein. Daß die Zahl der (weiblichen) Autoren deutlich kleiner als die Zahl der Tweets ist, hätte den bekannten Protagonisten der Kampagne eventuell schon aufgrund ihrer eigenen Aktivität und ihrer beruflichen Erfahrung mit digitalen Medien auffallen können.

Analyse der Inhalte

Aus den 58027 Tweets wurde eine Stichprobe von 286 Tweets entnommen. Die Tweets haben jeweils einen Abstand von ca. 200 Einträgen voneinander, decken also den Zeitraum vom 25. bis 28.01.2013 relativ gleichmäßig ab. Diese Tweets wurden manuell grob wie folgt klassifiziert:
  1. 2 Tweets: Berichte über eine körperliche Belästigung von Frauen ("Der Unbekannte der mir im Getümmel an den Hintern fasst...", "Typendie ne Freundin und mich nach der Schule angemacht und stundenlang festgehalten haben und keiner unserer Jungs hat geholfen")
  2. 19 Tweets: verbale Beleidigungen bzw. Belästigungen von Frauen (Beispiele: "Der Chef der meint mich 'Püppchen' oder 'Suesse' nennen zu duerfen.", "mir sagen ich 'gehör richtig durchgevögelt' wenn ich mich über sexismus und widerliche aussagen empöre", "Zum Thema #aufschrei gehören auch die vielen frauenv rachtenden Songtexte. Eine Frau "Bitch" zu nennen ist heute ja fast schon normal", "Wenn mich ein Typ begrapscht geht's mir beschissen")
  3. 3 Tweets: verbale Beleidigungen bzw. Belästigungen von Männern ("Für die stockbesoffene Mittdreißigerin die mich gestern trotz eindeutiger Signale meinerseits ungefragt angebaggert hat", "Der ist ein Mann die denken doch alle nur mit dem Schwanz", "Du hast deinen Job doch nur weil du ein Kerl bist")
  4. 172 Tweets: allgemeine Fragen und Bemerkungen zur Aufschrei-Kampagne, was sie bedeutet, wie wichtig sie ist, wo Zeitungsartikel erscheinen, wie sie ausgeweitet werden kann, Werbung für die Kampagne usw.
  5. 48 Tweets: Kritik, Unfug oder Verhöhnung der Aufschrei-Kampagne bzw. des Feminismus ("Biete frische Herrensahne an kein Versand", "Meine Mutter hat mich als Jungen erzogen. #aufschrei", "Ich wurde heute noch kein einziges Mal sexuell belästigt", "Deutsche Frauen machen Ihren Ruf als unerotischste flirtunfahigste und humorloseste Frau alle Ehre", "Das albernste was es gibt sind männliche Feministen. Nein ihr kriegt keine Möse")
  6. 42 Tweets: kein erkennbarer Sinn ("Zalandolieferung", "Ich liebe das Internet.", "Herr #Jauch meint er brauche keine Traumatherapie", ...)
Bei sehr vielen Tweets (nicht nur bei den 42 der letzten Kategorie) war der Sinn nur mit Mühe bzw. unsicher zu bestimmen.
Wie weit in der Vergangenheit die geschilderten Vorfälle liegen, bleibt durchweg offen, da keine Angaben zum Zeitpunkt (z.B. "letzte Woche") gemacht werden. Die meisten Vorfälle scheinen schon einige Zeit oder sogar schon länger, d.h. mehrere Jahre, zurückzuliegen.

Hochrechnungen und Bewertung der hochgerechneten Werte

Die 1. und 3. Gruppe ist zu klein, um sie halbwegs zuverlässig auf die Gesamtheit von 58027 Tweets hochzurechnen.
Faßt man die 1. und 2. Gruppe zusammen, dann stellen diese Fälle 7.3% (21/296) der Stichprobe dar. Hochgerechnet auf die 58027 Tweets entspricht dies 4260 Tweets. Allerdings kann über den gleichen Vorfall vom gleichen Autor in mehreren Tweets berichtet worden sein, die tatsächliche Zahl der Fälle also niedriger liegen. Eine simple Division durch 3.25 (Zahl der Tweets pro Autor) ist nicht zulässig, weil verschiedene Tweets i.a. verschiedene Themen betreffen.
Bei einem geschätzten Zeitraum von 3 Jahren, auf die sich die Vorfälle verteilen, wären pro Jahr ca. 2.5% der Stichprobe betroffen.

Sehr unklar bleibt, für welche Teile der Bevölkerung die weiblichen Autoren der Kampagne repräsentativ sind und ob die berechneten Prozentsätze auf große Bevölkerungsgruppen übertragen werden können:

  1. Repräsentativität bzgl. der persönlichen Erfahrungen:
    Die Altersklasse 15 - 35 Jahre scheint deutlich zu überwiegen.
  2. Repräsentativität bzgl. der Bereitschaft, aktiv an der der Kampagne teilzunehmen:
    Groben Schätzungen zufolge beschäftigt die staatlich finanzierte Feministische Infrastruktur in Deutschland ca. 5.000 hauptamtliche und mehrere 10.000 nebenamtliche Frauenbeauftragte, bei denen es praktisch zu den Dienstaufgaben gehört, derartige Aktionen zu unterstützen. Sofern auch nur ein Teil dieser Personen an der Kampagne teilgenommen hat, würde dies einen großen Teil der ca. 12.000 weiblichen Autoren ausmachen, d.h. die Autoren der Kampagne wären wesentlich anders zusammengesetzt als die Allgemeinheit.
In der Summe erscheint es fahrlässig bzw. sehr spekulativ, die Prozentsätze von 7.3% Betroffener ohne Zeitraumangabe bzw. ca. 2.5% Betroffener pro Jahr auf große Bevölkerungsgruppen zu übertragen.

Jedenfalls erscheinen Begriffe wie "Alltagssexismus" oder die Behauptung, daß "viele Frauen schon in sehr jungen Jahren in ihrem Selbstvertrauen erschüttert werden", zumindest aufgrund dieser Zahlen nicht nachvollziehbar. Diese Begriffe suggerieren beim üblichen Sprachverständnis, daß ein großer Teil der Frauen, z.B. 20%, bzw. daß Frauen regelmäßig, z.B. einmal pro Monat, solchen Vorfällen ausgesetzt ist; die vorliegenden Zahlen sind davon um wenigstens eine Größenordnung entfernt.

Die ggf. am wenigsten erwartete Erkenntnis ist das Ausmaß an Kritik an der Aufschrei-Kampagne: mit 16.8 % (48/286) bzw. hochgerechnet 9738 Fällen hat die Gruppe der Kritiker rund ein Sechstel der Tweets erzeugt und vermutlich ungewollt zum Erfolg der Kampagne beigetragen.

Wünschenswert wäre eine genauere Analyse mit einer 5 - 10 mal größeren Stichprobe, um vor allem die Größe der 1. und 3. Gruppe genauer bestimmen zu können. Ein prinzipielles Problem ist und bleibt selbst dann die Unverständlichkeit vieler Tweets: es ist oft nicht klar, ob ein selbst erlebtes oder nur allgemein mißbilligtes Verhalten dargestellt wird und wie schwerwiegend der Vorfall war. Die Korrektheit der Behauptungen kann natürlich ebenfalls nicht geprüft werden.



Bewertung der Aufschrei-Kampagne

Soziale Problem sind sozial konstruiert in dem Sinne, daß nicht jedes echte soziale Problem auch öffentlich als solches wahrgenommen wird und viele öffentlich wahrgenommenen sozialen Problemen keine echten sind. Entscheidend ist oft mehr die Pressure group hinter einem Problem und deren mediale Wirkung.

Bei der Aufschrei-Kampagne deutet sehr viel auf Astroturfing hin, also daß eine Gruppe von feministischen Aktivisten das Ereignis inszeniert und orchestriert hat. Bei einigen Millionen Frauen in der Altersklasse 15 - 35 Jahre finden sich leicht 10.000 Frauen, die unter Unverschämtheiten (die hier nicht beschönigt werden sollen) oder sogar strafbaren Handlungen von Männern gelitten haben. Daß es also mehrere tausend mehr oder weniger Betroffene gibt, überrascht nicht besonders. Es spricht auch nichts dagegen, schon bekannte Mißstände anzuprangern, die Frage ist nur, wie und mit welchen Nebenwirkungen.

Wenn man die Zahl der Vorfälle von der anderen Seite her liest, dann ist offenbar nur ein sehr kleiner Prozent- oder sogar Promillesatz aller Männer (abhängig vom Anteil der Mehrfachtäter) Täter gewesen und eine extrem große Mehrheit kein Täter. Die mediale Wirkung der Kampagne führt aber dazu, alle Männer pauschal anzuklagen oder zumindest zu verdächtigen. Vereinzelte gegenteilige Beteuerungen, nicht alle Männer zu meinen, sind unwirksam. Diese offensichtliche Wirkung der Kampagne fügt sich nahtlos in andere feministische Aktivitäten ein und war - vermutlich - erwünscht und geplant:

  • Sie bestärkt den Opferstatus von Frauen und diskreditiert Männer als notorisches Tätergeschlecht. Beides ist ein zentrales politisches Druckmittel, um kompensatorische Sonderrechte zugunsten von Frauen politisch durchzusetzen.
  • Durch die fast beliebige Aufblähung des Begriffs Sexismus (vgl. unten Nachtrag 2) bzw. sexuelle Gewalt wird das feministische Definitionsmacht-Konzept propagiert, dem zufolge es ausschließlich im Ermessen einer Frau liegt zu entscheiden, wann sexuelle Gewalt bzw. Belästigung vorliegt. Das Definitionsmacht-Konzept und die damit zusammenhändende Privilegientheorie sind wiederum zentrale feministische Projekte, mit denen das Rechtssystem zugunsten von Frauen untergraben werden soll.


Nachtrag 1: lesenswerte Analysen der Sexismus-Debatte

  • Lucas Schoppe: Der Jürgen Drews des deutschen Feminismus. man-tau.com, 15.06.2016. https://man-tau.com/2016/06/15/der-jurgen-drews-des-deutschen-feminismus/
    Dieser Text analysiert detailliert die Art, wie die #Aufschrei-Kampagne ein Zerrbild von Männern als Belästigern und von Frauen als täglich leidenden Opfern aufbaut, sowie die diskursive Asymmetrie, in der der Recht, über diesen Problembereich zu diskutieren, völlig einseitig den feministischen Frauen zugeordnet wird. Die diskursive Machtposition der feministischen Sichtweise begründet sich letztlich durch die bedigungslose Unterstützung der feministischen Ideologie in den Medien, sie macht die #Aufschrei-Kampagne i.w. zu einer Sammlung bestätigender Illustrationen der vorgegebenen Verurteilung von Männern.
  • Marc Felix Serrao: Mannomann. Süddeutsche, 31.01.2013. https://www.sueddeutsche.de/leben/sexismus-debatte-mannomann-1.1587336
  • Eine weitaus seriösere Antwort auf die Frage, wie verbreitet Sexismus in Deutschland ist, liefert die Studie "Sexismus-Debatte: Nur ein Thema für urbane Hipster und Sozial-Ökologen?" des Markt- und Sozialforschungsinstituts Sinus. Sie basiert auf einer Befragung, die zwischen dem 6. und 10.02.2013 durchgeführt wurde und die repräsentativ für die erwachsene Bevölkerung von 18 bis 69 Jahren ist. Demnach sehen 85% der Bevölkerung im Sexismus kein großes Problem bzw. können mit dem Begriff nichts anfangen. Der Anteil der Personen, die nach eigenem Bekunden schon einmal von Sexismus betroffen waren, ist bei hoher Bildung rund doppelt so hoch wie bei niedriger Bildung (obwohl bei hoher Bildung typischerweise strengere Verhaltensmaßstäbe verinnerlicht sind). Deutlich überrepräsentiert unter den am Thema Interessierten ist ein progressives Milieu und die Wählerschaft der Grünen, SPD und Linken. Die Studie stellt die (rhetorische) Frage, ob "alles nur ein Medien-Hype" ist und kommt zum Fazit, daß einiges dafür spricht, daß Sexismus nicht unerheblich eine Frage der Einstellung und ein Problem der Privilegierten ist.
  • Ralf Bönt: Tausendschön im Neopatriarchat. Aus Politik und Zeitgeschichte, Bundeszentrale für politische Bildung, 07.02.2014. https://www.bpb.de/apuz/178666/tausendschoen-im-neopatriarchat
  • Bönt zitiert einen Blogeintrag (https://archive.is/4y7xL), der mit einer kleineren Sammlung von Tweets zu ähnlichen Beobachtungen kommt.


Nachtrag 2: Ausdehnung des Begriffs sexuelle Gewalt in der deutschen Wikipedia

In den Debatten im Rahmen der Aufschrei-Kampagne waren die zentralen Begriffe Sexismus und sexuelle Gewalt zunächst nur unscharf abgegrenzt und wurden im Verlauf der Aufschrei-Kampagne immer stärker ausgedehnt, insb. durch die bekannten Wikipedia-Administratoren. Mehr Details hierzu hier: Kampfbegriff "Sexismus" - feministische Umdeutungen.


Nachtrag 3 (Januar 2016): Neuauflage der Aufschrei-Kampagne: #ausnahmslos

Anfang 2016 lieferten die wesentlichen Akteurinnen der Aufschrei-Kampagne im Gefolge der Kölner Ereignisse eine Neuauflage in Form der #ausnahmslos-Kampagne.


Nachtrag 4 (März 2016): weitere Neuauflage der Aufschrei-Kampagne: #imzugpassiert

Im März 2016 kündigte die Mitteldeutschen Regionalbahn an, in Zügen zwischen Leipzig und Chemnitz künftig Abteile für Frauen zu reservieren, um deren Sicherheitsgefühl zu stärken. Jedem Unternehmen ist natürlich freigestellt, wie es sich am Markt positioniert und welche Marketingmaßnahmen es für opportun hält. Immerhin wäre es spannend gewesen zu erfahren, wie verbreitet das Unsicherheitsgefühl von weiblichen Kunden der Regionalbahn tatsächlich ist.

Die kontrovers diskutierte Entscheidung rief umgehend den üblichen Hashtag-Aktivismus auf den Plan, der mit der Twitter-Kampagne #imzugpassiert die bundesweiten täglichen Leiden von Frauen, Fraueninnen, Frauen* und Transgender-Personen bei Bahnfahrten ins öffentliche Bewußtsein rücken will. Einige Analysen zur Inszenierung dieses neuen Aufschreis:

In Österreich, von wo aus der Hashtag initiiert wurde, finden die Österreichische Bundesbahnen die Kampagne "sehr überraschend", weil die ÖBB "in den Zügen und auf den Bahnhöfen ein sehr hohes Sicherheitsniveau halte". 1,4 Millionen Reisende seien pro Tag in den Zügen der ÖBB unterwegs, zu Übergriffen käme es kaum: im Jahr 2015 gab es insgesamt nur 15 Bedrohungen und Tätlichkeiten gegen Reisende.

Weitere Quellenangaben s. Feministische Twitter-Kampagnen.



Nachtrag 5 (April 2016): die medial nichtexistente Kampagne: #tüpischtüpen

Die extrem guten Verbindungen des Twitter- und Netzfeminismus in die Medien zeigten sich mit umgekehrtem Vorzeichen bei dem Hashtag #tüpischtüpen, der Anfang April tagelag trendete. Nach einem Tag verzeichnete er etwa zweihundert aktive Nutzer, eine Reichweite von über hunderttausend Nutzern und eine Million impressions, ohne mit einem Wort in der Presse erwähnt worden zu sein.

Obwohl er das gleiche Thema wie die vorstehend genannten Hashtags behandelte - allerdings nicht aus einer feministischen Haltung heraus - und wesentlich mehr Resonanz erzeugte, wurde er auch weiterhin von der Presse eisern ignoriert.

Ausführliche Darstellung: August R. Finger: Weil ein Tüp nicht reicht



Nachtrag 6 (Mai 2016): #maybehedoesnthityou

Die neueste Aufschrei-Variante nennt sich #maybehedoesnthityou - "Vielleicht schlägt er dich nicht ...".

Bisher zum Glück noch nicht, aber was kommt später ... irgendwann und letztendlich (also eventually)? Laurie Penny verrät es uns:

Laurie Penny (@PennyRed)
#maybehedoesnthityou and maybe, eventually, he does
06:51 - 11. Mai 2016 (Retweets: 555, gefällt: 966)
womöglich, irgendwann, wird er es tun!! Was nun? Entweder ist es nur "(wo)möglich", also nicht garantiert, oder irgendwann und letzten Endes kommt es garantiert, so sicher wie der Tod. Beides gleichzeitig geht nicht.

#maybeyouremathilliterate

Kleiner Tip für Nichtmathematikerinnen: Wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses 0.0001 % ist, dann ist die Möglichkeit, davon betroffen zu sein, trotzdem 100%. Das ist wie beim Lotto: theoretisch kann jeder Teilnehmer 6 Richtige haben, und mit der Hoffnung, womöglich, irgendwann, zu gewinnen, ziehen sie dir das Geld aus der Tasche. Faktisch hat du keine Chance und wirst für dumm verkauft. Womit wir wieder bei #maybehedoesnthityou und Laurie Penny wären:

Bodyshaming!

Laurie Penny @PennyRed
#maybehedoesnthityou but he constantly criticizes your clothes, your makeup, your body, instructs you to work out and be more 'feminine.'
06:46 - 11. Mai 2016 (Retweets: 371, gefällt: 622)
Gerüchteweise verlautet, daß sich Frauen untereinander viel mehr kritisieren als Männer und daß Männer auf alles anspringen, was rote Lippen und lange Beine hat. :confused: Außerdem lebt eine ganze Industrie von Frauenzeitschriften davon, daß Frauen freiwillig Zeitschriften kaufen, in denen ihnen erklärt wird, wie sie noch schöner aussehen könnten, die also implizit das bisherige Aussehen kritisieren...
Feminism Matters (@WeNeedFeminlsm)
#MaybeHeDoesntHitYou but he manipulates you into thinking that you're ugly, worthless, stupid and undeserving of all the good things in life
19:00 - 10. Mai 2016 (Retweets: 1.307, gefällt: 2.667)
As a woman, you deserve of all the good things in life! Das ist ein Menschenrecht! Zumindest für Frauen.

Passive Aggression!

Angelis (@IntricateRarity)
#maybehedoesnthityou because he knows silence and indifference are deeper wounding weapons.
00:01 - 14. Mai 2016
Männer schrecken wahrhaftig vor keiner noch so hinterhältigen Form von Aggression zurück. Und was noch viel schlimmer ist: das ist eindeutig ein Fall von ...

Cultural appropriation!

Denn eigentlich gelten ja emotionale Mißhandlung, sozialer Ausschluß und psychische Aggressionen aller Art als Spezialität von Frauen, sowohl im Rahmen der intrasexuellen Konkurrenz als auch bei Ehekriegen. Aber da ist es nur Notwehr, natürlich.


Nachtrag 7 (anläßlich der #metoo-Kampagne): Übersichtsliste über 70+ Twitter-Kampagnen der letzten Jahre

Anläßlich der #metoo-Kampagne (in der mit 4 Jahren Abstand scheinbar alle Debatten neu geführt werden, die schon 2013 zuende diskutiert wurden) gibt es jetzt auf einer separaten Seite eine Übersicht über ca. 70 feministische Twitter-Kampagnen der letzten Jahre, die meisten aus dem englischen Sprachraum.