Inhaltsübersicht
Motivation und Zusammenfassung
Wissenschaftstheorien im Vergleich
Schlußfolgerungen
Typische Fehlannahmen
Motivation und Zusammenfassung
Zusammenfassung
In der Geschlechterdebatte geht es häufig darum, ob
bestimmte Argumente und Sachaussagen richtig oder falsch
sind, und oft sogar darum, ob bestimmte Aspekte überhaupt
relevant sind und betrachtet werden müssen. Das wichtigste
Beispiel ist die
"nature-vs.-nurture"-Debatte, also die
Frage, wieweit unser soziales Verhalten, darunter unsere
sexuellen Präferenzen und Identität, biologisch bestimmt
ist. Damit zusammenhängend wird seit Jahren heftig über
die
Wissenschaftlichkeit der (real existierenden) Gender
Studies debattiert. Dies wiederum führt zur Frage,
wann etwas "wissenschaftlich erwiesen" ist.
Man kann in den Debatten regelmäßig zwei Typen von
Teilnehmern erkennen, und zwar mehr geistes- oder
sozialwissenschaftlich geprägte bzw. mehr
naturwissenschaftlich geprägte, die die Argumente der
Gegenseite regelmäßig für unbewiesen, unpräzise, reine
Glaubenssache, essentialistisch und prinzipiell irrelevant
bezeichnen. Viele Debatten verlaufen daher nicht
konstruktiv.
Der harte Kern dieses Problems liegt darin,
daß in der Geschlechterdebatte Wissen aus ganz
verschiedenen Wissenschaftsgebieten eine Rolle spielt und
in diesen Wissenschaftsgebieten sehr verschiedene
Wissenschaftstheorien benutzt werden. Ziel dieses
Beitrags ist,
- die Ursachen für diese
Konflikte zu beleuchten, wobei fast zwangsläufig der
generelle Konflikt zwischen Geistes- und
Sozialwissenschaften einerseits und Natur- und
Formalwissenschaften andererseits zur Sprache kommt,
- die Wissenschaftstheorien der involvierten
Wissenschaftsgebiete kurz vorzustellen,
- darzustellen, daß wegen des ganz anderen
Charakters des jeweiligen Wissens letztlich inkompatible
Wissenschaftstheorien unausweichlich sind,
- darzustellen, daß eine Wissenschaftstheorie
nicht außerhalb des Wissenschaftsgebiets, für das sie
entwickelt wurde, anwendbar ist, daher auch nicht ihre
Kriterien für Wissenschaftlichkeit,
- den sehr unterschiedlichen Grad an
Zuverlässigkeit und Eindeutigkeit des Wissens in den
unterschiedlichen Wissenschaftsgebieten zu klären,
- aus diesen Beobachtungen Schlußfolgerungen zu
ziehen, ob es so etwas wie "Gender Studies" geben kann,
die sowohl wissenschaftlich sind als auch die hohen
gesellschaftlichen Erwartungen an die praktische
Nutzbarkeit der Ergebnisse erfüllen.
In die Geschlechterdebatte involvierte
Wissenschaften
In die Geschlechterdebatte sind mindestens vier
Disziplinen, die teilweise überlappen und die ggf. sogar
selber interdisziplinär sind, wesentlich involviert:
- Biologie (zzgl. Medizin, Neurowissenschaft und
Evolutionstheorie): insb. hinsichtlich der Frage, wie
sehr unsere biologische Beschaffenheit Einfluß auf
unser Sozialverhalten hat, ob es statistische
Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen gibt
- Psychologie: insb. hinsichtlich Theorien
über mentale Reaktionen und innere Antriebe
- Soziologie (ferner Anthropologie
und ggf. Politologie): insb. bei der Beschreibung und
Analyse sozialer Einflüsse auf Männer und Frauen
- Philosophie: u.a. bei moralisch wertenden
Aussagen und ethischen Fragestellungen
Die "mentale Distanz" dieser Wissenschaftsgebiete macht
man sich leicht klar, wenn man sich übliche
Kategorisierungen der Wissenschaften ansieht und
feststellt, daß die o.g. Themen sich quer über alle
Kategorien verteilen:
-
die Formalwissenschaften, zu denen die Mathematik, formale
Logik, theoretische Informatik und Teile der Linguistik und
Philosophie zählen. Gegenstand dieser Wissenschaften sind
abstrakte, formale Konzepte. Diese Wissenschaften,
namentlich die Mathematik, werden in anderen
Wissenschaften intensiv benutzt und stellen somit
"Werkzeuge" für wissenschaftliches Arbeiten in anderen
Wissenschaften zur Verfügung. Deshalb nennt man sie auch
Basiswissenschaften.
-
die Naturwissenschaften: hierzu zählen die Physik, Chemie,
Biologie und allgemeiner Wissenschaften, die empirisch
arbeiten und sich mit der Erforschung der Natur befassen.
Ziel ist die exakte Beschreibung natürlicher Phänomene,
insofern sind diese Wissenschaften empirisch. Dieses Wissen kann sehr oft praktisch
ausgenutzt werden. Die Ingenieurwissenschaften nutzen das
naturwissenschaftliche Wissen aus, um technische Geräte und
Verfahren zu realisieren. Die Medizin nutzt biologisches
Wissen, um Therapien gegen Krankheiten zu entwickeln. Der
Übergang von reinen Naturwissenschaften zu angewandten
Wissenschaften ist oft fließend.
-
die Geisteswissenschaften: hierzu zählen Geschichte,
Kunst, Musik, Literatur, Religion, Sprachen u.ä. Gebiete.
Gegenstand dieser Disziplinen sind kulturelle,
ästhetische, ggf. soziale u.ä., in der Natur nicht
vorkommende "Produkte" von Menschen und die langfristigen
Prozesse, die zu diesen Produkten führten.
-
die Sozialwissenschaften, zu denen u.a. die Anthropologie, Demografie, Ethnologie, Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft zählen. Gegenstand dieser
Disziplinen sind Phänomene, die das Zusammenleben von
Menschen und die dabei entstehenden gesellschaftlichen
Strukturen und sozialen Prozesse betreffen.
Die Formalwissenschaften und fast alle
Geisteswissenschaften sind nichtempirisch: Sie
konstruieren selber die geistigen Artefakte, die ihr
Untersuchungsgegenstand sind (aus diesem Grund wird die
Mathematik oft als Geisteswissenschaft bezeichnet, was
aber wegen der völlig verschiedenen Wissenschaftstheorien
nicht sinnvoll ist). Man erkennt hier deutlich den
diametralen Gegensatz zwischen Geistes- und
Naturwissenschaften.
Die Sozialwissenschaften sind teilweise empirisch, teilweise
nicht. Die Abgrenzung zu den Geistes- bzw.
Naturwissenschaften ist unscharf, sowohl hinsichtlich der
Fragestellungen wie der Forschungsmethoden. Viele Teilgebiete
sind interdisziplinär und ordnen sich keinem der großen
Wissenschaftsgebiete zu.
Dies gilt insb. auch für die
Psychologie, einem für die Geschlechterfrage zentralen
Gebiet. Teile der Psychologie sind eher
naturwissenschaftlich bzw. eher sozialwissenschaftlich
ausgerichtet.
Wissenschaftstheorien
Jede wissenschaftliche Disziplin entwickelt im Laufe der
Zeit Methoden, wie wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen
werden und unter welchen Voraussetzungen sie als
"wissenschaftlich bewiesen" anerkannt werden. Diese
Methoden bezeichnet man auch als eine
(konkrete) Wissenschaftstheorie.
Unter "Wissenschaftstheorie" versteht man oft die
wissenschaftliche Analyse der einzelnen konkreten
Wissenschaftstheorien, die hier selber
Forschungsgegenstand werden. Dies bezeichnen wir als
Meta-Wissenschaftstheorie. Diese Meta-Ebene
klammern wir hier aus und werden i.f unter
"Wissenschaftstheorie" immer eine konkrete
Wissenschaftstheorie verstehen.
Im Laufe der Zeit sind sehr viele konkurrierende konkrete
Wissenschaftstheorien vorgeschlagen worden (s.
diese
Übersicht). Die Autoren dieser Theorien sind in
verschiedenen Disziplinen beheimatet und repräsentieren in
gewisser Weise einen Konsens, wie man erfolgreich in ihrer
eigenen Disziplin wissenschaftlich arbeitet. Es sind auch
Bemühungen erkennbar, die unterschiedlichen
Wissenschaftstheorien zu vereinheitlichen. Dieses
naheliegende Ziel scheint aber nicht erreicht worden zu
sein, es wird vermutlich auch nie erreicht werden.
Hauptursache hierfür ist, daß die Struktur und der
Sinngehalt der Aussagen in den Disziplinen zu
unterschiedlich ist.
Wissenschaftstheorien im Vergleich
Einleitung
Die Wissenschaftsgebiete, die für die Geschlechterdebatte
relevant sind, haben teilweise diametral entgegengesetzte
Wissenschaftstheorien, man kann schon von einem
Aufeinanderprallen der Kulturen reden. Auffällig ist dies
bei der Frage, ob es so etwas wie "Objektivität" bzw.
"objektives Wissen", also unabhängig von Menschen gültige
Wahrheiten gibt. In den Naturwissenschaften wird dies
eindeutig bejahrt - zentral ist hier der Modellbegriff -,
während dies in den Geisteswissenschaften klar verneint
wird. In den Sozialwissenschaften ist die Haltung dazu
ambivalent; teilweise haben Sozialwissenschaftliche
Theorien den Charakter von Modellen, teilweise nicht.
I.f. gehen wir zunächst auf den Modellbegriff ein, der für
das moderne (Natur-) Wissenschaftsverständnis zentral ist,
und fragen uns, welches im Kontext der Geschlechterdebatte
relevante Wissen als Modell gelten kann.
Modelle
Modelle begegnen uns täglich. Ein Organigramm ist ein
Modell eines Unternehmens. Eine Puppe ist ein Modell eines
Menschen oder eines Tiers. Eine Landkarte ist ein Modell
eines Teils der Erdoberfläche. Das
Fallgesetz
ist ein Modell eines Vorgangs, wie sich ein Körper durch
Schwerkraft bewegt bzw. beschleunigt wird. Das
Bohrsche Atommodell ist ein (relativ einfaches)
Modell von Atomen, das bestimmte Elemente der
Quantenmechanik veranschaulicht. Ein Wahlergebnis ist ein
Modell vom politischen Willen einer Bevölkerung. Eine
Verkehrsunfallstatistik ist ein Modell von der
Fahrtüchtigkeit der Menge der Fahrer. Ein (Vor-) Urteil
ist ein Modell von der Wahrscheinlichkeit eines bestimmten
Verhalten oder bestimmter Merkmale in einer
Bevölkerungsgruppe.
Unser "Wissen" besteht weitgehend aus solchen Modellen,
und die meiste Wissensvermittlung basiert auf Modellen.
Wenn man den Begriff Modell weiter präzisieren will, kommt
nicht daran vorbei, verschiedene Verwendungen von Wissen
zu unterscheiden.
- Verstehen und Informationsreduktion. Es
gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie ein mehr oder
weniger großer Körper ausgehend von irgendeinem Ort in
einem Schwerkraftfeld seinen Ort mit der Zeit verändert.
Die Fallgesetze abstrahieren von diesen Einzelheiten und
reduzieren die unendliche Menge von Einzelfällen auf die
gemeinsame Struktur.
- Prognosen. Wenn man einen Hebel an der
einen Seite mit einer bestimmten Kraft drückt, dann kann
man voraussagen, welche Kraft an der anderen Seite
auftreten wird. Wenn man bei einem Getriebe die
Eingangswelle mit einer bestimmten Drehzahl dreht, kann
man voraussagen, mit welcher Drehzahl und Drehrichtung
sich die Ausgangswelle drehen wird. Wenn man den Preis
eines Produkts senkt, steigt mit hoher Wahrscheinlichkeit
die verkaufte Menge an, man kann es aber nicht genau
voraussagen.
Abstrakter ausgedrückt ist ein
Modell ist ein
"beschränktes Abbild" eines anderen Systems. Nach
Herbert Stachowiak ist es
durch mindestens drei Merkmale gekennzeichnet:
- Abbildungsmerkmal: Ein Modell ist stets ein
Modell von einem anderen System, das in diesem
Zusammenhang als "das Original" bezeichnet wird. Das
Original kann real oder imaginiert sein, früher, heute
oder künftig existieren und ggf. selbst auch ein Modell
sein. Das Modell ist insofern Abbild des Originals, als es
bestimmte interessierende Eigenschaften korrekt
wiedergibt.
- Verkürzungsmerkmal: Ein Modell erfasst i.a.
nicht alle Attribute des Originals, sondern nur
diejenigen, die im Rahmen der Zweckbestimmung des Modells
durch den Modellerschaffer und/oder die Nutzung durch den
Modellnutzer relevant erscheinen.
- Pragmatisches Merkmal: Modelle sind ihren
Originalen nicht eindeutig zugeordnet. Sie erfüllen ihre
Ersetzungsfunktion a) für bestimmte Subjekte, b) innerhalb
bestimmter Zeitintervalle und c) unter Einschränkung auf
bestimmte gedankliche oder tätliche Operationen. Anders
gesagt kann es für das gleiche Original verschiedene
Modelle geben, abhängig vom Nutzer, Zeitpunkt der
Entstehung oder Nutzung des Modells und von der
beabsichtigten Verwendung. Beispielsweise sind eine
Straßenkarte und eine topographische Karte des gleichen
Gebiets zwei verschiedene Modelle des gleichen Originals,
die verschiedenen Zwecken dienen.
Modelle erheben also
nicht den Anspruch, die "volle Wahrheit"
auszudrücken oder den Sinn oder die Ursprünge eines Phänomens zu
erklären. Zentral ist die Anspruch, gültige Prognosen über das
modellierte Original zu machen, und zwar fast immer unter
bestimmten Randbedingungen. Die Gesetze der klassischen Mechanik
sind z.B. korrekte physikalische Modelle unter der Randbedingung,
daß die involvierten Objekte geringe Massen, die keine relevante
Schwerkraft ausüben, haben und Bewegungen nur langsam im Vergleich
zur Lichtgeschwindigkeit sind. Andernfalls ist die
Relativitätstheorie zu verwenden.
Literatur
-
Herbert Stachowiak:
Allgemeine Modelltheorie.
Springer,
1973.
Wissen in den Naturwissenschaften
Unter Naturwissenschaften versteht man die Wissenschaften,
die sich mit der Erforschung der Natur befassen bzw. die,
anders ausgedrückt, korrekte Modelle der Natur entwickeln.
Häufig sind die Modelle mathematische Formeln, d.h. es
handelt sich um quantitative Aussagen über die Natur.
Ebenfalls häufig sind strukturelle Modelle, z.B. für
Moleküle, die Anordnung von Atomen im Raum und deren
Bindungen veranschaulichen.
Naturwissenschaftliche Modelle werden für beide oben
genannte Zwecke von Modellen, Verstehen bzw. Prognosen,
benutzt. Das reine Verstehen der Natur befriedigt die
menschliche Neugierde. Viel wichtiger sind Prognosen: Die
Ingenieurwissenschaften stellen Konstruktionsmethoden zur
Verfügung, mit denen funktionierende Apparate und
Maschinen gebaut werden können. Eine Maschine
"funktioniert", wenn sich die Prognose erfüllt, daß sie im
Betrieb ein spezifiziertes Verhalten aufweisen wird. Diese
Prognose basiert letztlich auf der Gültigkeit der
ausgenutzten naturwissenschaftlichen Modelle.
Wenn naturwissenschaftliche Modelle den Anspruch erheben,
Prognosen zu erlauben, dann wird dabei unterschwellig eine
wichtige Annahme über die behandelten Phänomene gemacht:
diese müssen i.a. beliebig oft wiederholbar sein, und die
Prognose muß ausnahmslos bei jeder Wiederholung eintreten.
Wenn sich nun eine Maschine nicht wie prognostiziert
verhält, obwohl kein Konstruktions- oder Fertigungsfehler
vorliegt und kein störender Einfluß vorhanden ist, gilt
das Modell als widerlegt.
Auf dieser Kernidee basiert der
Falsifikationismus, die in den Naturwissenschaften
dominierende Wissenschaftstheorie: Ein Modell - also
naturwissenschaftliches Wissen - gilt solange als
zutreffend, solange im Rahmen seines Anwendungsbereichs
alle Prognosen eintreffen. Sobald eine Prognose
reproduzierbar scheitert, gilt das Modell als widerlegt
und muß verbessert werden, z.B. durch Einschränkung seines
Gültigkeitsbereichs, oder für völlig ungültig erklärt
werden. Es ist wichtig, sich folgende
Annahmen klar zu
machen, ohne die der Falsifikationismus nicht als
Wissenschaftstheorie nutzbar ist:
- Experimente, deren Ausgang die Modelle
prognostizieren, sind beliebig wiederholbar.
- Die Experimente müssen so durchführbar sein,
daß Fremdeinflüsse ausgeschlossen sind. Dies ist i.a. nur
in einer "Laborumgebung" möglich.
- Man benötigt Meßgeräte bzw. geeignete
Verfahren, mit denen das Experiment ausreichend präzise
beobachtet wird (mehr dazu unten).
- Typischerweise können zu einem Zeitpunkt nur
wenige numerische Werte gemessen werden, und das Phänomen
drückt sich als einmaliger Wert, ein zeitlicher Verlauf
von Werten oder eine statistische Verteilung der Werte
aus.
- Sofern Phänomene mehrfach am gleichen Original
auftreten können, darf das System keine "Erinnerung" haben
oder lernfähig sein. Anders gesagt darf das untersuchte
System nicht von früheren Experimentdurchführungen
beeinflußt werden bzw. sich mit der Zeit nicht wesentlich
verändern.
Die vorstehenden Bedingungen sind Merkmale des Wissens,
also der Aussagen, deren Wahrheitsgehalt zur Diskussion
steht.
Fast alle Aussagen in der Physik, Chemie und Biochemie
erfüllen diese Bedingungen.
In der allgemeinen Biologie, der Medizin und der
Psychologie erfüllen viele Aussagen diese Bedingungen,
allerdings bei weitem nicht alle. In der Biologie
kann man z.B. diverse Stoffwechselprozesse relativ präzise
durch passende Materialflußmodelle nachbilden und
empirisch überprüfen, indem man die entstehenden
Zwischenprodukte nachweist. Ebenso kann man einfache
Vererbungsgesetze systematisch in der Tier- bzw.
Pflanzenzucht ausnutzen, also empirisch bestätigen. Die
empirische Bestätigung von biologischem und medizinischem
Wissen über Menschen ist teilweise möglich, teilweise
nicht, z.B. wenn Tests zu riskant für die Gesundheit der
Testpersonen sind.
Ein Teilgebiet der Biologie, das im Kontext der
Geschlechterdebatte oft zitiert wird, sind die Strukturen
unserer Gehirne. Man kennt die Funktionen einzelner Areale
recht gut, vor allem infolge von Unfällen oder
Krankheiten, die zur Beschädigung der Areale und zum
nachfolgenden Verlust der dort realisierten Fähigkeiten
führten. Die Schlußfolgerung aus diesen Einzelfällen zu
einer allgemeinen Aussage, daß ein bestimmtes Areal eine
bestimmte Funktion hat, basiert auf dem Prinzip der
Induktion. Eine Aussage, die mittels Induktion bei
einer hohen Zahl von früheren, nicht wiederholbaren
Beobachtungen "bewiesen" wird, kann sehr glaubwürdig sein,
sie ist aber aber im Prinzip
weniger glaubwürdig bzw. zuverlässig als eine
falsifizierbare Aussage.
Festhalten kann man jedenfalls, daß entgegen der
landläufigen Meinung keineswegs alle naturwissenschaftlichen
Aussagen tatsächlich falsifizierbar sind und daß oft "nur" mit
Induktion oder anderen Beweismethoden gearbeitet wird. Diese
Aussagen sind daher als weniger zuverlässig einzuschätzen.
Objektivität und die
Bedeutung der Meßtechnik
Die Objektivität der Verfahren, mit denen Experimente
beobachtet werden, ist sehr wichtig.
Diese Verfahren müssen mehrere Eigenschaften aufweisen:
- Sie dürfen die Meßergebnisse nicht verfälschen,
weil sie das Experiment irgendwie beeinflussen.
- Sie dürfen nicht von Fähigkeiten oder
Einflüssen eines Experimentators abhängen, sondern müssen
i.a. (theoretisch) von beliebigen Experimentatoren
praktizierbar sein.
- Die Meßgenauigkeit muß für den
Beobachtungszweck angemessen sein. Wenn man z.B. die
Behauptung "In einem Schwerkraftfeld werden Massen zur
Mitte des Felds hin beschleunigt" prüfen will, ist i.a.
ein menschlicher Beobachter ausreichend präzise. Will man
die Gültigkeit des Ohmschen Gesetzes im Fall von
Wechselströmen überprüfen, braucht man relativ
komplizierte Meßgeräte.
Generell muß die Beschreibung eines Naturgesetzes im
Zweifelsfall explizit angeben, welche Anforderungen die
Meßtechnik erfüllen muß. Die zu überprüfende Behauptung
ist dann nicht nur "es wird Phänomen X auftreten", sondern
"das Meßverfahren M wird XYZ anzeigen". Das Meßverfahren
ist insofern integraler Bestandteil der Behauptung des
Naturgesetzes.
Wissen in den Sozialwissenschaften
Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und die
(Sozial-) Psychologie stellen ebenfalls vielfach Aussagen
auf, die Modellcharakter haben und die sogar explizit
einen Anspruch auf Prognosefähigkeit erheben. Nur vor
diesem Hintergrund lassen sich "feministische
Interventionen", "Konjunkturprogramme" und andere
Steuerungsmaßnahmen begründen, von denen man sich
nützliche Effekte erhofft.
Allerdings sind die oben gelisteten Merkmale
falsifizierbarer Aussagen durchweg nicht erfüllt: Die
modellierten Originale sind zu komplex, sind lernfähig,
nicht objektiv vermeßbar (wann sind z.B. Personengruppen
"glücklich" oder "optimistisch"?), falsifizierende
Experimente sind nicht durchführbar usw.
Notgedrungen muß man daher in den Sozialwissenschaften auf
das Prinzip der
Induktion oder andere Beweismethoden zurückgreifen.
Eine weitere Maßnahme besteht darin, sehr allgemeine
Aussagen zu vermeiden und zu konkreteren Aussagen mit
eingeschränktem Gültigkeitsbereich überzugehen. Eine
konkretere Aussage kann leichter "glaubwürdig bewiesen"
werden, dafür ist sie andererseits nicht immer anwendbar und
insofern uninteressant.
Vordergründig entwickeln Teile der Psychologie und der
empirischen Sozialforschung falsifizierbare Modelle des
menschlichen Verhaltens. Allerdings betreffen diese Modelle
bzw. Aussagen stets nur schmale Ausschnitte der Originale
(Menschen, Gesellschaften), d.h. sie beschreiben bestimmte
isolierte Phänomene korrekt, aus diesen Phänomenen kann aber
nicht die Gesamtstruktur des Originals abgeleitet werden.
Anders gesagt sind diese Aussagen nur unter sehr
einschränkenden, ggf. sogar nicht genau bekannten
Bedingungen korrekte Modelle, man kann sie nicht darüber
hinaus verallgemeinern. Daher kann man mit ihnen fast keine
sicheren Prognosen machen, welchen Effekt Interventionen an
den Originalen bewirken werden.
Wechselwirkung zwischen
Modell und Orginal (bzw. zwischen Realität und Wissen über
die Realität)
Wissen in den Sozialwissenschaften weist einen
prinzipiellen Unterschied zu Wissen in den
Naturwissenschaften auf: es ist unter Umständen ein
relevanter Teil der modellierten Realität. Wenn bspw. die
Regierung ein Konjunkturprogramm durchführt - z.B. die
Förderung der Verschrottung älterer PKWs - dann wird dabei
ein volkswirtschaftliches Modell unterstellt, wonach als
Folge dieses Programms die Verkäufe der PKW-Hersteller
steigen und diese als Folge mehr Personal einstellen,
letzteres ist die gewünschte Wirkung. Die Erstellung bzw.
Existenz dieses Modells hat also die Realität erheblich
beeinflußt. Natürlich hat nicht jedes Modell der sozialen
Realität tatsächlich Auswirkungen auf die Realität, das
Potential ist aber häufig vorhanden. Eine ähnliche
Wechselwirkung von Wissen über die Realität auf die
Realität ist in den Naturwissenschaften nicht denkbar,
Modell und Original sind dort strikt getrennt.
Ein soziales Modell, das Auswirkungen in der Realität hat
- z.B. Wissen von Marktteilnehmern über die
Wirtschaftslage - und das sich an Änderungen der Realität
ggf. zeitverzögert anpaßt, ist i.a. kein korrektes Modell
der Realität mehr. Es müßte sich eigentlich selber
enthalten. Ansätze zur Modellierung von rückgekoppelten
bzw. lernenden Systemen liefert die Spieltheorie.
Entstehung, Begründung und Verwertung von
Wissen in den Sozialwissenschaften
In den Naturwissenschaften ist die Menge der interessanten
Modelle relativ beschränkt. Man könnte z.B. an dem
Phänomen, daß Wasser den Berg herauffließt, interessiert
sein und es erforschen wollen, aber noch so umfangreiche
Projekte werden nichts entsprechendes finden.
In den Sozialwissenschaften ist wegen der Komplexität der
sozialen Systeme die Menge der denkbaren Modelle
wesentlich größer. Man kann z.B. praktisch jeden sozialen
Vorgang auf die Frage hin untersuchen, ob dort Frauen
irgendwie diskriminiert werden, also bei entsprechender
Befragung ein Unwohlsein äußern, und wird immer
irgendwelche Indizien finden, wenn man nur lange genug
nachfragt. In diesem Zusammenhang unterscheidet man drei
Zusammenhänge oder Phasen, in denen Wissen entsteht:
- Entstehung der Untersuchungsgegenstände:
deren Auswahl kann von wissenschaftsexternen Faktoren,
z.B. von politischen oder wirtschaftlichen Interessen,
abhängen.
- Begründung: die Überprüfung bzw.
Begründung von Hypothesen soll frei von äußeren Einflüssen
und Wertungen sein (im Gegensatz zur Entstehung).
- Verwertung: in einem separaten Schritt
ist zu entscheiden, ob und wie die (hoffentlich richtigen)
Erkenntnisse verwertet werden. Wie schon oben erläutert
sind die Aussagen meist nur unter sehr einschränkenden
Bedingungen validiert worden, und ihre
Verallgemeinerbarkeit (externe Validität) oft unklar.
In den Naturwissenschaften würde man Aussagen, die nur
unter extrem einschränkenden Bedingungen gültig sind, als
uninteressant ansehen und gar nicht erst versuchen, diese
zu verallgemeinern.
Die Glaubwürdigkeits- und
Replikationskrise in der Psychologie und
Soziologie
Seit rund 20 Jahren mehren sich die Zweifel, ob die
Ergebnisse der Sozialwissenschaften (und der Psychologie)
vertrauenswürdig sind. Gestützt werden die Zweifel durch
Skandale wie die Sokal-Affäre und die "Replikationskrise -
viele grundlegende Phänomene können bei
Versuchswiederholungen nicht reproduziert werden, waren
also Zufall oder sogar Fälschungen. Betroffen hiervon sind
insb. die angeblichen Wirkungen von Stereotypen und der
Selbsteinschätzung auf die Leistung von Personen. Mehr
Details und Quellen hierzu s. separate Seite
Die Glaubwürdigkeits- und
Replikationskrise in der Psychologie und
Soziologie.
Wissen in der Mathematik und den
Formalwissenschaften
Zu den Formalwissenschaften gehört vor allem die
Mathematik, die theoretische Informatik, bestimmte Anteile
der Philosophie u.ä. Gebiete. Diese enthalten wiederum
Gebiete wie die formale Logik. Wegen der Dominanz der
Mathematik innerhalb der Formalwissenschaften
konzentrieren wir uns i.f. auf die Mathematik.
Gegenstand der Mathematik bzw. der Formalwissenschaften
sind formale Systeme, z.B. abstrakte Mengen, Zahlen,
logische Ausdrücke usw. "Wissen" in der Mathematik besteht
aus Axiomen und daraus formal ableitbaren Theoremen.
Praktisch die komplette moderne Mathematik benötigt nur
das abstrakte Konzept "Menge" (genauer gesagt die Axiome
Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre) als Basis. Ein Beispiel
für eine zulässige
Beweismethode ist die vollständige Induktion. M.a.W.
hat die Mathematik eine formale, sehr spezielle
Wissenschaftstheorie.
Mathematisches Wissen ist daher extrem zuverlässig. Daß
sich ein mathematisches Theorem, das in der Praxis benutzt
wurde, als falsch herausstellt, ist fast undenkbar. Auf
einem anderen Blatt steht, daß mathematisches Wissen
schwer zu lernen ist und oft nicht richtig angewandt wird;
das ist allerdings ein Ausbildungs- bzw. Talentproblem.
Die Mathematik wird übrigens häufig
fälschlicherweise als eine Naturwissenschaft
angesehen, mehr hierzu s.u.
Wissen in den Geisteswissenschaften
Die Geisteswissenschaften umfassen eine große Zahl von
Einzeldisziplinen, welche sich mit kulturellen, geistigen,
medialen, teilweise auch sozialen, historischen, politischen
und religiösen Phänomenen befassen. "Wissen" in den
Geisteswissenschaften hat großenteils die Form, daß
irgendetwas schön, gut, gerecht, moralisch wertvoll,
sinnstiftend etc. ist.
In Disziplinen wie Musik, Kunst, Literatur u.ä. spielen
ästhetische Fragen eine große Rolle, im Kontext der
Geschlechterdebatte sind dies aber nur Randthemen.
Relevanter sind Themen bzw. Disziplinen, die soziale
Phänomene beschreiben und bewerten. Eine besonders wichtige
Rolle spielen in diesem Zusammenhang die
Anthropologie und die Geschichtsforschung, denn
sozialen bzw. individuduelle Entwicklungsprozesse dauern
sehr lange. Ggf. werden das bewerteten Phänomene mit Hilfe
naturwissenschaftlicher Methoden und sozialer Modelle
erforscht und beschrieben, die Bildung dieser Modelle ist
aber nicht zentraler Gegenstand der Geisteswissenschaften
(sondern allenfalls ein eigenes interdisziplinäres Gebiet).
Typisch für anthropologisch beeinflußte Disziplinen der
Geisteswissenschaften ist daher eine historische Denk- und
Argumentationsweise: Im Gegensatz zu Naturwissenschaftenm
kann Erfahrungswissen nicht jederzeit im Labor reproduziert
bzw. neu generiert werden, sondern die Menge der
"Experimente mit menschlichen Gesellschaften" ist durch die
Geschichte abschließend vorgegeben.
Bewertungen natürlicher oder sozialer Phänomene sind im
Prinzip willkürlich und in der Natur als solche nicht
vorhanden, also Konstrukte, die diese Wissenschaft selber
erzeugt. Zusammengefaßt kann man dies als Interpretation der
Realität bezeichnen.
Das "Wissen", das irgendetwas schön oder gerecht ist, ist
also prinzipiell eine willkürliche Festlegung. Derartiges
Wissen hat keinen Modell- oder Prognose-Charakter, es
beschreibt die Realität nicht, sondern bewertet sie.
Deshalb sind auch Wissenschaftstheorien wie der
Falsifikationismus oder mathematische Kalküle hier
prinzipiell nicht anwendbar. Eine geisteswissenschaftliche
Theorie kann auf innere Widerspruchsfreiheit und ähnliche
formale Kriterien, soweit sie mathematisch oder
philosophisch greifbar sind, überprüft werden. Allerdings
kann damit bei einem Streit zwischen zwei Theorien, die
den Begriff "gerecht" definieren, nicht entschieden
werden, welche Definition die richtige(re) ist.
Die so gebildeten wertenden Begriffe können soziale Prozesse
steuern und insofern Teil dieser Prozesse werden. Z.B. kann
als ungerecht klassifiziertes Verhalten bestraft werden,
d.h. die geisteswissenschaftliche Begriffsbildung, insb. die
jeweils geltende
Gerechtigkeitstheorie und damit zusammenhängend die
geltende
politische Ideologie (vgl. auch
Politisches Wertedreieck), hat oft massive reale
Auswirkungen. Man kann nun versuchen, die Gültigkeit
geisteswissenschaftlicher Theorien danach zu bewerten, ob
und wie sie in sozialen Prozessen eine erwünschte
Steuerungswirkung entfalten. Allerdings handelt man sich
damit alle Probleme ein, die die Soziologie bei der
Beschreibung der Realität und der Bildung von Modellen hat.
D.h. das eigentliche Problem, eine Wissenschaftstheorie für
geisteswissenschaftliche Aussagen zu erhalten, wird eher
verschlimmert.
Schlußfolgerungen
Zusammenfassung: Wissen ist unterschiedlich
zuverlässig
Das "Wissen", das die einzelnen Wissenschaften "schaffen",
hat in den großen Wissenschaftsgebieten einen sehr
verschiedenen Charakter. Große Teile der
Naturwissenschaften gehen von der zentrale Annahme aus,
daß es eine unabhängig vom Menschen vorhandene Natur gibt
und das Wissen darin besteht, diese Natur möglichst exakt
mit Modellen zu beschreiben. Mit zunehmender Komplexität
der "Systeme", namentlich bei Menschen und Gesellschaften,
ist dieses Ziel nicht mehr erreichbar, d.h. man kann
Aussagen nicht mehr beweisen oder widerlegen, sie sind nur
noch häufig auftretende Beobachtungen, die i.d.R. eine
plausible innere Logik haben. Die Geisteswissenschaften
wiederum definieren Werte und menschliche bzw.
gesellschaftliche Ziele im Prinzip völlig unabhängig vom
Status quo oder mit Bezug auf eine eventuell unschöne
Realität.
Die Zuverlässigkeit des Wissens in dem Sinne, daß man
unter Nutzung dieses Wissens in der Realität bzw. der
Politik "ingenieurmäßig" bestimmte Effekte zuverlässig
erzeugen kann, nimmt in den Gebieten rapide ab:
- Wissen in der Mathematik und generell in den Formalwissenschaften wird formal bewiesen und ist
völlig zuverlässig.
- Wissen in den Naturwissenschaften ist
hochgradig zuverlässig (solange die Randbedingungen der
Anwendbarkeit eingehalten werden), speziell dann, wenn die
Bedigungen für die Falsifizierbarkeit erfüllt sind. Diese
Bedingungen sind speziell bei vielen medizinischen oder
biologischen Themen - z.B. Vererblichkeit von Talenten -
nur eingeschränkt oder gar nicht erfüllt.
- Wissen in den Sozialwissenschaften ist
weitgehend unzuverlässig. Viele interessiende soziale
Strukturen ist zu komplex, um sie hinreichend genau
beschreiben zu können. Ihre Entstehung ist zu langfristig,
um sie experimentell überprüfen und ggf. widerlegen zu
können.
- Wissen in den Geisteswissenschaften ist
meistens eine willkürliche Setzung. Der Begriff
Zuverlässigkeit ist hier prinzipiell nicht anwendbar.
Das Dilemma einer seriösen
Geschlechterforschung
Geschlechterforschung findet heute vor allem als
Zweckwissenschaft der feministischen Ideologie unter dem
Etikett Gender Studies statt.
In den letzten 2 - 4 Jahren ist diese Kritik an den Gender
Studies bis in die Mainstream-Medien vorgedrungen. Zu den
markantesten Vorkommnisse zählen der Artikel
Schlecht, schlechter,
Geschlecht von Harald Martenstein, der eine
heftige und anhaltende Diskussion auslöste, oder z.B.
der Artikel
Aus Angst vor
einem anderen Leben von Catherine Newmark, der die
Gender Studies verteidigte, dessen über 800 Kommentare
indes weit überwiegend die bekannte Kritik an den Gender
Studies betonten.
In einem eher akademischen Umfeld wagte sich der
Gender-Forscher Stefan Hirschauer 2014 aus der Deckung und
publizierte in der Zeitschrift
Forschung und Lehre eine
vielbeachtete Insider-Kritik an den Gender Studies, in der
er eine völlige Neuorientierung der Gender Studies fordert.
Einige verbreitete Kritikpunkte sind offensichtlich
richtig, namentlich die politische Einflußnahme auf die
Forschung und die Besetzung von Forscherstellen durch
(biologische) Frauen, für deren Auswahl die ideologische
Gesinnung und/oder sexuelle Orientierung wichtiger als die
Forschungskompetenz zu sein scheint. Diese
offensichtlichen Kritikpunkte klammern wir i.f. aus und
konzentrieren uns auf die Anteile der
Geschlechterforschung, die zumindest versuchen könnten,
wissenschaftlich seriös zu arbeiten. Zu diesem potentiell
seriösen Anteil stelle ich hier eine pessimistische These
zur Debatte:
Auch eine bessere, seriöse
Geschlechterforschung würde nicht viel weniger kritisiert
werden, weil die Erwartungen prinzipiell nicht erreichbar
sind.
Erwartungen an die Geschlechterforschung
Kritik wird immer vor dem Hintergrund nicht erfüllter
Erwartungen formuliert. Daher müssen wir zunächst die
Erwartungen klären. Hier kann zwei Perspektiven in der
öffentlichen Debatte erkennen:
- Geschlechterforschung als reine, zweckfreie
Wissenschaft
- Geschlechterforschung als angewandte
Wissenschaft, die politischer Entscheidungen begründet und
Lösungen konkreter sozialen Probleme liefert.
Geschlechterforschung als reine
Wissenschaft
Eine Wissenschaft wird normalerweise durch ein
dominierendes Oberthema definiert, das in viele
Unterthemen gegliedert sein kann, aber nichtsdestotrotz
z.B. gemeinsame Basistheorien ermöglicht und einheitliche
wissenschaftliche Arbeitsmethoden und Standards aufweist.
Als Oberthema der Geschlechterforschung werden oft die
Differenzen zwischen Männern, Frauen und weiteren
"Geschlechtern" definiert, und zwar in
biologisch-medizinischer, psychischer, sozialer und
philosophischer Hinsicht.
Geschlechterdifferenzen werden von jeher sowieso innerhalb
der Wissenschaftsgebiete untersucht oder, wenn bisher noch
nicht, können bzw. sollten dort untersucht werden. Solche
Geschlechterdifferenzen können also kein Kernthema einer
anderen, konkurrierenden Wissenschaft
"Geschlechterforschung" sein.
Beispielsweise wurde vor einiger Zeit in einer TV-Debatte
behauptet, die Untersuchung unterschiedlicher
Medikamentierungen von Frauen und Männern sei ein Thema
der Gender Studies, mit Hinweis darauf, daß bisherige
Medikamentierungen an Männern orientiert sind, weil nur
diese in den Zulassungsverfahren als Testpersonen benutzt
wurden. Geschlechtsspezifische Medikamentierungen sind
indes ein rein medizinisches Problem. Daß bisher nur
Männer als Testpersonen benutzt wurden, ist ein Defizit
bisheriger Untersuchungen, das sozial verursacht ist
(Geringschätzung der Gesundheit von Männern). Deswegen
kann das Medikamentierungsproblem aber nicht mit Methoden
der Sozialforschung gelöst werden.
Interdisziplinäre Themen und deren Probleme
Für eine eigene Wissenschaft "Geschlechterforschung"
bleiben daher nur die
tatsächlich interdisziplinären
Themen übrig. Ein klassisches Beispiel sind biologisch
geprägte geschlechtsabhängige Verhaltensmuster, z.B.
sexuelle Orientierungen oder unterschiedliche
intellektuelle Entwicklungen von Jungen und Mädchen.
Im Endeffekt müssen hier Forschungsthemen und
Forschungsmethoden aus mehreren Wissenschaftsgebieten
zusammenspielen und kombiniert werden. Dies ist äußerst
anspruchsvoll, um nicht zu sagen meistens unmöglich:
- inkompatible Wissenschaftstheorien:
Wie schon im Abschnitt "Wissenschaftstheorien im
Vergleich" diskutiert haben die großen
Wissenschaftsgebiete völlig verschiedene, um nicht zu
sagen inkompatible Wissenschaftstheorien.
- Nicht beherrschbare Komplexität:
Typischerweise interessiert man sich für
soziologische Phänomene, auch mit Blick auf die politische
Verwertbarkeit. Durch die Einbeziehung (verhaltens-)
biologischer Einflußfaktoren wird die Komplexität der
Fragestellungen und Untersuchungsszenarien deutlich
gesteigert gegenüber den Einzelwissenschaften und
ist letztlich nicht mehr beherrschbar.
Als Ausweg und um die Komplexität wieder auf
einen handhabbaren Umfang zu reduzieren, werden die Themen
typischerweise durch einschränkende Annahmen wieder auf
Einzelaspekte reduziert, also letztlich nur Spezialfälle
untersucht. Die Ergebnisse sind dann eher Kasuistik und
nicht mehr hinreichend verallgemeinerbar (z.B. auf
Gesamtbevölkerungen). Die Einzeluntersuchungen bilden in
ihrer Gesamtheit einen Flickenteppich mit
widersprüchlichen Einzelergebnissen.
Ein Beispiel hierfür ist die Forschung zu den Auswirkungen von Frauenquoten in
Unternehmensvorständen, die in ihrer Gesamtheit zu
vielen Widersprüchen führt und letztlich die postulierten
generellen Vorteile von Frauen in Vorständen nicht
beweist, generelle Nachteile aber auch nicht.
- unzureichende Vermittelbarkeit:
Tatsächlich interdisziplinäre Themen "leiden" unter einer
großen Zahl zu berücksichtigender Faktoren und führen
selten zu einfach verständlichen Schwarz-weiß-Aussagen.
Oft sind sie zu komplex oder unscharf, um der breiten
Öffentlichkeit ohne besondere Vorkenntnisse vermittelt
werden zu können. Damit sind sie politisch schlecht
verwertbar, denn Politik basiert oft auf einfachen,
propagandistischen Aussagen.
Hinzu kommt in politischer Hinsicht das Problem, daß für
viele Fragestellungen konkurrierende Theorien kursieren,
die wissenschaftlich unfundiert sind und eher
Verschwörungstheorien zu bezeichnen sind (Beispiel: die
Theorie vom Patriarchat). Solche Verschwörungstheorien
sind aber simpler und eingängiger und werden oft von
Medien oder anderen Debattenteilnehmern mit entsprechendem
Nachdruck verbreitet.
Typische Fehlannahmen
Motivation
Wie schon in der Einleitung erwähnt reden mehr geistes-
oder sozialwissenschaftliche geprägte bzw. mehr
naturwissenschaftlich geprägte Debattenteilnehmer oft
aneinander vorbei. Die folgenden Abschnitte beschreiben
einige gegenseitige Fehlannahmen bzw. Fehlverständnisse,
die nach meinem Eindruck häufig vorkommen.
Die "volle" Wahrheit vs. Modelle der Realität
Die Naturwissenschaften erheben den Anspruch, mit ihren
Modellen "wahre" Aussagen über die Realität zu machen,
also zu beschreiben, wie sie wirklich ist. Die
Naturwissenschaften erheben
nicht den Anspruch, mit
ihren Modellen folgendes zu erklären:
- warum die Realität so ist, wie sie ist,
- ob es einen Sinn hat, daß die Realität so und
nicht anders ist, und wenn ja, welchen,
- ob die Realität gut, schlecht, erstrebenswert
oder wie auch immer zu beurteilen ist,
- wie es (historisch) dazu kam, daß die Realität
so ist.
Der letzte Punkt ist besonders auffällig: Naturgesetze
sind keine Aussagen über die Vergangenheit, sondern
Prognosen zu Phänomenen, die in der Zukunft eintreten
werden. Thesen wie die Urknall-Theorie gelten als induktiv
begründete, plausible Theorien, nicht als gesichertes
Wissen und nicht als Naturgesetze, und sind offensichtlich
nicht falsifizierbar.
Speziell die Philosophie beschäftigt sich auf der Suche
nach Wahrheit und Erkenntnis mit genau diesen Fragen und
versteht unter "Wahrheit" oder "Realität" vor allem diese
Aspekte. Ein öfter zu beobachtender Argumentationsfehler
besteht darin, den philosophischen Wahrheitsbegriff und
den damit verbundenen Anspruch den Naturwissenschaften zu
unterstellen und dann triumphierend festzustellen, daß
dieser Anspruch nicht erfüllt wird.
Daß die naturwissenschaftliche Modelle nicht den Anspruch
erheben, die "vollen" Wahrheit auszudrücken, macht
außerdem der Modellbegriff explizit deutlich: Modelle sind
sogar
bewußte Vereinfachungen eines Originals, die
nur hinsichtlich der modellieren Eigenschaften die
Wahrheit über das Original wiedergeben.
Bedeutung von Sprache und Sprachverstehen bei der
Formulierung von Wissen
In den Geistes- und Sozialwissenschaften wird "Wissen"
fast immer in natürlicher Sprache formuliert, häufig sogar
in längeren textuellen Darstellungen. Darin benutzten
Begriffe sind oft nicht präzise definiert und verschieden
interpretierbar. Dies führt zu dem Problem, diese Texte
richtig zu verstehen,
und zur Frage, ob überhaupt ein einheitliches,
nichtsubjektives Verständnis des Wissens möglich ist.
In Debatten oder Lernprozessen werden diese Darstellungen
oft noch verkürzt, was das Problem noch stark
verschlimmert.
Diese Probleme führen zu Begriffen wie der
"Situativität bzw. Kontextabhängigkeit von Wissen".
In den Formalwissenschaften existiert dieses Problem
nicht. Nicht umsonst gibt es den Begriff "mathematische
Sprache" bzw.
formale Sprache in der Informatik. Es handelt sich
hier um nichtnatürliche Spezialsprachen, die eine sehr
präzise Bedeutung haben, über die sich alle
Wissenschaftler einig sind.
Die Naturwissenschaften benutzen ebenfalls sehr umfänglich
entweder mathematische Notationsformen oder eigene
Spezialsprachen mit einer exakten Bedeutung. Beispiel: das
Ohmsche Gesetz wird üblicherweise durch die Gleichung
R = U / I dargestellt. Zitat aus der Wikipedia:
"Das ohmsche Gesetz postuliert folgenden Zusammenhang:
Wird an ein Objekt eine elektrische Spannung angelegt, so
verändert sich der hindurchfließende elektrische Strom in
seiner Stärke proportional zur Spannung. Mit anderen
Worten: Der als Quotient aus Spannung und Stromstärke
definierte elektrische Widerstand ist konstant, also
unabhängig von Spannung und Stromstärke." (Das Präsens ist
als Futur zu lesen, das Gesetz macht eine Prognose!)
Dieses Gesetz gilt für Objekte aus diversen elektrisch
leitenden Materialien (z.B. diverse Metalle, aber nicht
für Halbleiter) und nur bei konstanter Temperatur. D.h.
eine vollständige Darstellung des Gesetzes macht genaue
Angaben darüber, unter welchen Annahmen es gilt, und
genaue Prognosen, welche Phänomene zu beobachten sein
werden.
Über den Sinngehalt des Ohmschen Gesetzes sind sich daher
alle Physiker und Elektroingenieure einig. Allgemeiner
gesagt gibt in den Naturwissenschaften kein Problem, exakt
zu verstehen, was andere Wissenschaftler behaupten.
Begriffe wie Situativität bzw. Kontextabhängigkeit von
Wissen sind in den Formalwissenschaften völlig absurd und
in den Naturwissenschaften, die oft mit einer Mischung aus
formalen und natürlichsprachlichen Beschreibungen
arbeiten, nicht nachvollziehbar. Durch die Verwendung von
formalen Notationen besteht kein relevanter
Interpretationsspielraum mehr.
Scheinbare Normativität von Naturgesetzen
Normativität ist ein zentrales Konzept
in den Geistes- und Sozialwissenschaften.
Normen können u.a.
sozial,
ethisch oder
rechtlich
sein. In allen Fällen wird ein Wirkmechanismus
unterstellt, der mehr oder weniger stark das (künftige)
Verhalten von Menschen beeinflußt. Normen erlauben also
auch Prognosen über das Verhalten von Menschen.
Naturgesetze machen ebenfalls Prognosen, sagen also
Vorgänge in der Zukunft voraus. Sie sind aber nicht
normativ sind in dem Sinne, daß sie eine Wirkung oder
"Macht" ausüben oder einen Willen repräsentieren. Wenn
niemand das Naturgesetz kennt, laufen die Vorgänge
trotzdem genauso ab. Naturgesetze sind daher deskriptiv
und nicht normativ.
Fast alle Naturwissenschaften befassen sich auch nicht mit
dem Verhalten von Menschen und mit Prognosen darüber. Zu
den wenigen Ausnahmen zählen die Psychologie,
Verhaltensbiologie und Teile der Medizin. Diese Gebiete
können aber nicht den Falsifikationismus nicht nutzen und
unterscheiden sich daher methodisch deutlich von
"normalen" Naturwissenschaften. Daher werden sie oft auch
nicht zu den Naturwissenschaften gezählt, sondern eher zu
den Sozialwissenschaften, oder werden als interdisziplinär
angesehen.
Die Mathematik ist keine Naturwissenschaft
Die Mathematik wird sehr oft fälschlich zu den
Naturwissenschaften gezählt, z.B. im Begriff
"MINT-Fächer", weil mathematische Konzepte und Formeln in
der Natur beobachtbare Phänomene abstrakt, also als
Modell, darstellen und weil diese Aussagen ggf.
falsifiziert werden können.
Eine mathematische Aussage ist z.B. "die Summe der
Innenwinkel eines ebenen Dreiecks beträgt 180 Grad." Man
findet nun in der Realität unzählige Gegenstände, an denen
man diese Aussage bestätigt findet. Insofern könnte man
diesen Satz als ein Modell der Realität ansehen bzw. real
existierende Dreiecke als physische Manifestation dieses
Satzes. Für die meisten mathematischen Sätze und Konzepte
existieren aber gar keine physischen Ausprägungen.
Beispielsweise ist unklar, ob die Zahl (überabzählbar)
Unendlich irgendwo in der Realität wahrnehmbar ist. Eine
simple Intervallschachtelung ist ein weiteres Beispiel:
beliebig kleine Abstände oder elektrische Spannungen
sind in der Realität nicht
praktisch beobachtbar oder sogar undenkbar.
Die Mathematik, insb. die "mathematische Sprache" (also
die kompakten Notationsformen), wird im Endeffekt nur als
Instrument in den wirklichen Naturwissenschaften benutzt.
Die Physik nutzt z.B. mathematische Notationsformen und
Theorien zur Beschreibung von Magnetfeldern oder
elektrischen Feldern (oft nur approximativ, s.
Nachbemerkung unten). Die entsprechenden Formeln sind
physikalische Aussagen, keine mathematischen.
Mathematisches Wissen hat auch keinen Prognosecharakter,
sagt also nicht den Ausgang von Experimenten in der Natur
voraus. Entgegen der häufigen Behauptung ist daher der
Falsifikationismus keine in der Mathematik anwendbare
Wissenschaftstheorie.
In der Mathematik gilt eine Aussage (bzw. eine
"Vermutung") nicht als korrekt, solange sie nicht
widerlegt ist.
Abbildungsfehler in mathematischen
Formeln
Mathematik ist wie schon erwähnt eine Basiswissenschaft,
d.h. mathematische Konzepte und Theorie werden benutzt, um
diverse Phänomene darzustellen und zu analysieren. Die
Mathematik wird also als Werkzeug in anderen
Wissensgebieten benutzt. Hierbei treten oft
Abbildungsfehler dergestalt auf, daß die mathematischen
Aussagen die Realität nur approximativ beschreiben.
Beispiel: physikalische Größen
Mathematische Modelle physikalischer Phänomene suggerieren
oft eine beliebig hohe Präzision, die in der Realität
nicht vorhanden ist. Simple Beispiele sind räumliche
Abstände oder elektrische Spannungen, deren Größe als
reelle Zahl (+ Maßeinheit) angegeben wird.
Reelle
Zahlen können beliebig klein sein, z.B. ist
10
-1000000 eine extrem kleine Größe, es ist
völlig unklar bzw. vermutlich falsch, daß eine Spannung
(Einheit: Volt) oder ein räumlicher Abstand (Einheit:
Meter) dieser Größe existiert. Wenn also in physikalischen
Aussagen Größen oder
Größendifferenzen als reelle Zahlen
angegeben werden, wird damit eine Präzision dieser Größen
suggeriert, die i.a. nicht vorhanden ist. Man kann dies
als einen "Abbildungsfehler infolge Benutzung
mathematischer Konzepte" ansehen.
Das Problem wird übrigens nicht durch die technisch
bedingten beschränkte Genauigkeit von Meßgeräten oder
Meßfehler in Versuchsanordnungen von Experimenten
verursacht, sondern ist prinzipiell. Die
Heisenbergsche
Unschärferelation ist ein bekanntes Beispiel dafür,
daß bestimmte physikalische Größen prinzipiell nicht
beliebig genau bestimmbar sind. Der Meßfehler von
Meßgeräten - daß z.B. Größen nur auf 4 - 5 Dezimalstellen
genau gemessen werden können - ist ein davon unabhängiges
Problem. Dieser technische Meßfehler ist in den meisten
Fällen allerdings sehr viel größer als der prinzipielle
Abbildungsfehler und überdeckt diesen.
Pragmatisch gesehen ist die Nutzung reeller Zahlen für
physikalische Größen trotz des prinzipiellen
Abbildungsfehlers richtig. Die Alternative wäre, daß
Physiker ein anderes Konzept von numerischen Größen
entwickeln, das die beschränkte Genauigkeit, mit der sich
die Größen bestimmen lassen, irgendwie berücksichtigt
(ggf. abhängig vom physikalischen Phänomen). Diesem
Aufwand steht kein erkennbarer Nutzen gegenüber, d.h.
obwohl die Nutzung mathematischer Konzepte zu einem
prinzipiellen Abbildungsfehler führt, beeinträchtigt
dieser die Prognosegenauigkeit der Modelle nicht.
Wesentlich gravierendere Folgen hat der prinzipielle
Abbildungsfehler durch Nutzung mathematischer Konzepte
allerdings in der empirischen Sozialwissenschaft. Dort
werden diverse Verfahren der
Deskriptiven Statistik eingesetzt, um z.B.
statistische Eigenschaften in menschlichen Populationen
darzustellen. Generell werden hierbei viele Einzeldaten zu
Durchschnitten aggregiert. Derartige
Aggregationen
sind eine stark vergröberte Darstellung der Realität, die
u.U. keine Aussagekraft mehr hat - daher auch der Begriff
"Unstatistik" oder fake-Stastitik. Ein bekanntes Beispiel
für eine solche Unstatistik ist der
Kampfbegriff "Gender Pay Gap".