Das Gleichstellungsparadox


Unter Gleichstellungsparadox (Gender Equality Paradox) versteht man das Phänomen, daß entgegen den Prognosen feministischer Theorien jahrzehntelange staatliche Gleichstellungsmaßnahmen nicht dazu geführt haben, daß die unterschiedlichen Präferenzen von Frauen und Männern, z.B. bei der Berufswahl, verschwunden sind. In einem engeren Sinn wird Gleichstellungsparadox auch so verstanden, daß in Staaten mit besonders intensiven Gleichstellungsmaßnahmen die berufliche Segregation und weitere Geschlechterunterschiede zwischen Frauen und Männern nicht geringer, sondern tendenziell ausgeprägter sind als in ärmeren Staaten, die sich keine Gleichstellungsindustrie leisten können.

Feministische Theorien prognostizieren, daß in einer weitgehend gleichgestellten Gesellschaft statistisch keine Unterschiede mehr im Berufswahlverhalten von Frauen und Männern auftreten werden. Diese Theorien basieren auf der Blank-Slate-Hypothese, unterstellen also, daß beide Geschlechter "von Natur aus" bei allen Berufen statistisch gleichverteilte Interessen und Fähigkeiten haben. Jede Ungleichverteilung, die als unvorteilhaft für Frauen erscheint, wird als Auswirkung von mysteriösen "strukturellen" Diskriminierungen oder mit dem Wirken eines Patriarchat erklärt und natürlich als Unrecht bewertet. Sofern man diese Verschwörungstheorien ernst nimmt, ist der Scheitern der entsprechenden langjährigen Maßnahmen ein Paradox.

Öffentliche Wahrnehmung des Begriffs bzw. Phänomens
Ein erstes, sehr breit rezipiertes Buch zu diesem Thema war 2008 "Das Geschlechterparadox" (The Sexual Paradox) von Susan Pinker. Pinker gab einen sehr umfangreichen Überblick über die damals vorhandene einschlägige Literatur und kam zum Fazit, daß biologische Dispositionen wesentliche Ursachen des unterschiedlichen Sozialverhaltens von Frauen und Männern sind.

Sehr stark in das öffentliche Bewußtsein gelangte das Gleichstellungsparadox in 2010 durch die norwegische Fernsehdokumentation Hjernevask (Gehirnwäsche; Brain Wash) von Harald Eia. Die skandinavischen Staaten praktizieren seit Jahrzehnten eine radikalfeministische Politik mit Frauenquoten, ubiquitärem Kampf gegen Stereotype, feministischer Indoktrination schon im Kindergarten usw.usw. Sie stellen also feministisches Paradies und sozusagen ein Experiment am lebenden Objekt dar, ob die feministischen Prognosen eintreffen. Sie sind nicht eingetroffen, deswegen war der Eindruck von einem Paradox hier besonders ausgeprägt. Die Hjernevask-Serie wurde 2010 in 7 Folgen ausgestrahlt, die erste Folge hieß Likestillingsparadokset (Das Gleichstellungsparadox). Harald Eia ist studierter Soziologe (Abschluß 1992 an der Universität Oslo), machte aber Karriere als einer der bekanntesten und erfolgreichsten Comedians in Norwegen. Hjernevask ist daher soziologisch sehr gut unterfüttert, zugleich aber sehr unterhaltsam und spannend gestaltet. Die Serie hatte einen enormen, sogar internationalen Erfolg.

Ebenfalls in Norwegen veröffentlichte Nima Sanandaji (ein dort recht bekannter Publizist) das Buch The Nordic Gender Equality Paradox. In einer ausführlichen Analyse zeigt er, daß das egalitäre, staatslastige Wohlfahrtssystem der skandinavischen Staaten (die Argumente gelten aber analog für Deutschland, die USA und viele andere reiche Staaten) mit seiner starken Steuerprogression, erheblichen Sozialtransfers, hohen Mindestlöhnen für Personal, einem aufgeblähten öffentlichen Dienst usw. das intensive Verfolgen einer Karriere unattraktiv macht.

Erhebliche Resonanz erregte eine 2018 veröffentlichte Studie von Stoet and Geary The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education (s. u.a. Falk (2018), Giolla (2018), Willingham (2018)). Der geringe Anteil der Frauen an technischen Fächern (und dazu komplementär der geringe Anteil von Männern an Berufen in Bereich Schule, Erziehung usw.) ist zwar nur eine Facette des Gleichstellungsparadox, aber eine sehr oft thematisierte, Das Stoet/Geary-Papier führte sogar zu einem Wikipedia-Eintrag; in diesem wird die Kritik an dem Stoet/Geary-Papier ausführlich dargestellt. Generell sind Vergleiche verschiedener Länder anhand von deren "Grad der Gleichstellung" und "Interesse von Frauen an MINT-Fächern" immer problematisch, weil hier sehr komplexe Merkmale einer Gesellschaft auf wenige, ggf. nicht präzise meßbare Metriken reduziert werden.

Ferner werden reinen Vergleich von weniger Metriken ggf. wesentliche soziale Einflüsse übersehen. In vielen muslimischen Staaten, in denen Frauen massiv diskriminiert werden, also offensichtlich ein sehr geringer Grad an Gleichstellung vorliegt, ist der Frauenanteil in den MINT-Fächern, vor allem in den IKT-Fächern, deutlich höher als in vielen westlichen Staaten mit hohen Gleichstellungsstandards. Hauptursache für dieses "Paradox" ist, daß Frauen dort viele wichtige Fächer (Recht, Religion u.a.) nicht studieren dürfen, also in die restlichen Fächer strömen, und die MIT-Fächer als vergleichweise liberal gelten.

Quellen
  • Armin Falk, Johannes Hermle: Relationship of gender differences in preferences to economic development and gender equality. Science 362, Issue 6412, eaas9899, DOI: 10.1126/science.aas9899, 19.10.2018. https://science.sciencemag.org/content/362/6412/eaas9899
  • Erik Mac Giolla, Petri J. Kajonius: Sex differences in personality are larger in gender equal countries: Replicating and extending a surprising finding. Int J Psychol, Wiley, 11.09.2018. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/ijop.12529
  • Olga Khazan: The More Gender Equality, the Fewer Women in STEM. The Atlantic, 18.02.2018. https://www.theatlantic.com/science/archive/2018/02/the ... 553592/
  • Susan Pinker: Das Geschlechterparadox. Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen (Originaltitel: The Sexual Paradox. Extreme Men, Gifted Women and the Real Gender Gap). DVA, 2008.
    Aufbereitung und Verdichtung von rund 400 wissenschaflichen Originalpublikationen mit dem Gesamtresümee, daß Männer und Frauen signifikant verschiedene Talentverteilungen haben und biologische Dispositionen eine wesentliche Ursache des unterschiedlichen Sozialverhaltens sind.
  • Nima Sanandaji: The Nordic Gender Equality Paradox. How Nordic welfare states are not only empowering women, but also (un)intentionally holding them back. Timbro, ISBN 9789177030126, 05.2016. nordicparadox.se/wp-content/uploads/2016/02/The-Nordic- ... dox.pdf, https://nordicparadox.se
    Sananda stellt das "Nordic Gender Equality Paradox" vor: obwohl die skandinavischen Staaten im weltweiten Vergleich extrem egalitär und feministisch sind, sind entgegen den Gender-Theorien die Führungspositionen weit überwiegend männlich besetzt. Sananda analysiert die Gründe hierfür und kommt zum Schluß, daß Führungspositionen gerade wegen der extrem egalitären Gesellschaft eher unattraktiv sind und Frauen daher nicht motiviert sind, diese Positionen anzustreben.
  • Gijsbert Stoet, David C. Geary: The Gender-Equality Paradox in Science, Technology, Engineering, and Mathematics Education. Psychological Science 29:4, 14.02.2018. https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0956797617741719
  • Emily Willingham: When Times Are Good, the Gender Gap Grows. Scientific American, 19.10.2018. https://www.scientificamerican.com/article/when-times-a ... -grows/