Dienstag, 10. April 2018

Pseudo-Debatten in der Wagenburg (von Jens Jessen, Bernd Ulrich et al.)

Inhaltsübersicht

Thesen

Am 04.04.2018 erschien in der ZEIT ein als Hauptbeitrag prominent plazierter Essay von Jens Jessen "Der bedrohte Mann". Die Bedrohung liegt laut Jessen darin, daß Männer systematisch von der Geschlechterdebatte ausgeschlossen würden und stattdessen ein radikalisierter Feminismus totalitäre Strukturen realisiert habe, die jede substantielle Kritik unterdrücke. Der Leitartikel erzeugte ein erhebliches Blätterrauschen in den Feuilletons und den zu erwartenden aggressiven Shitstorm von Feministen gegen Jessen in den "sozialen" Netzen (der unfreiwillig Jessens Thesen bestätigt). Thesen zum Artikel:
  1. Der Artikel ist sehr gut geschrieben. Seine Thesen als solche sind prinzipiell richtig, aber für jemanden, der außerhalb der feministischen Filterblase lebt, nichts neues, sondern eher Standardwissen.
  2. Die Thesen von Jessen sind aufgrund des Feuilleton-Formats nicht explizit und präzise formuliert, insbesondere soweit es sich eigentlich um empirische Aussagen über "die Feministinnen", "die Männer" o.ä. handelt. Qualitativ belegt er die Existenz der postulierten Phänomene mit vielen guten Beispielen, dies sagt aber nichts über die quantitative Relevanz der Phänomene aus. Kurz gesagt behandelt er ein soziologisches Problem mit dem Handwerkzeug eines Literaturwissenschaftlers, das funktioniert nicht.
  3. Aufgrund der in b. genannten Defizite bietet der Essay zahllose Angriffspunkte für Falschinterpretationen und Unterstellungen, die auch prompt en masse bei den feministischen Kommentatoren zu beobachten waren (sofern sie den Essay überhaupt gelesen haben) und die dort das etablierte Wagenburg-Denken nur verstärkt haben.
  4. In Rahmen der Publikationsstrategie der ZEIT bzw. von ZEIT Online betrachtet ist der Jessen-Essay der durchschaubare Versuch, so etwas wie eine offene Debatte über den Feminismus vorzutäuschen. Unter hunderten Artikeln, die jährlich feministische Propaganda verbreiten, befinden sich pro forma immer 2 - 5% feminismuskritische, dies ist einer davon. In 4 Wochen wird er vergessen sein.
  5. Das eigentlich Interessante an diesem Fall ist das geschickte Empörungsmanagement der ZEIT und die scheinbare Unmöglichkeit, auch 5 Jahre nach der Aufschrei-Kampagne männliche, feminismuskritische Standpunkte in der Öffentlichkeit zu vertreten. Der Essay ist ein Aufreger mit einigen für Feministinnen ziemlich provokanten Wahrheiten. Auf Kosten von 2 oder 3 vor Wut gekündigten Abonnements feuert er den feministischen Aktivismus an und gibt der ZEIT in der Replik, die sie mit dem Artikel zusammen angekündigt hat, die Chance, sich als Hüter der feministischen Ideologie zu präsentieren und die Wagenburg wieder nach außen abzudichten.


Motivation und Übersicht

Vor 3 Wochen habe ich die These aufgestellt, daß die MeToo-Kampagne die Fronten in der seit mindestens 5 Jahren immer hitziger laufenden Geschlechterdebatte nur weiter verhärtet (und nicht etwa, wie von Protagonisten behauptet, endlich den Frauen eine Stimme gibt). Wie zur Unterstützung dieser These erschien am 04.04.2018 in der ZEIT ein "Wutausbruch" (denglisch: ein Rant) von Jens Jessen "Der bedrohte Mann".

Dieser Artikel nimmt zwar im Aufmacher Bezug auf die Exzesse der seit langem tobenden MeToo-Kampagne, ist in Wirklichkeit aber eine Generalabrechnung mit dem hegemonialen institutionalisierten Feminismus in Deutschland (und andernorts). Jessen stellt je nachdem, wie man den Text liest und gruppiert, rund 10 Thesen (s.u.) auf, u.a. daß der medial (und ggf. auch politisch) herrschende Feminismus totalitär ist und sich nicht etwa, wie die Lehrbuchdefinition vorgaukelt, für Gleichberechtigung einsetzt.

Wie nicht anders zu erwarten und wie zum Beweis einiger Thesen von Jessen setzte noch vor der Veröffentlichung ein Shitstorm gegen den Essay und gegen Jessen persönlich ein. Die meisten feministischen Presseoutlets veröffentlichten einen Verriß des Textes (oder "Ridikülisierungen", eine interessante Wortschöpfung des Essays) oder platte Beschimpfungen von Jessen. Die unterirdische journalistische Qualität dieser Artikel ist in dem medienkritischen Blog Spiegelkritik sehr gut dargestellt.

Aus männerrechtlicher Sicht wirkt der Text auf den ersten Blick sehr erfreulich, weil endlich mal jemand Thesen, die Männerrechtler seit Urzeiten vertreten, öffentlich sichtbar aufstellt und belegt, und das sogar im feministischen Zentralorgan DIE ZEIT. Man fragt sich, ob Jessen vielleicht bei uns abgeschrieben hat. (Spoiler: nein)

Ein zweiter Blick und eine gründliche Lektüre sind dann sehr ernüchternd. Die Thesen des Textes sind umgangssprachlich ziemlich unscharf bzw. pauschal formuliert. Wegen ihrer Unschärfe kann man sehr leicht Gegenargumente zu den Thesen finden. Die Argumentationen, mit denen die Thesen belegt werden, sind nur beispielhaft und stellenweise sehr gewagt, also leicht angreifbar. Die etablierten maskulistischen Thesen zum Zustand der Geschlechterdebatte und zum Feminismus sind im Vergleich dazu viel ausdifferenzierter und besser begründet.

In der Summe komme ich zur Beurteilung, daß dieser Text weitgehend ungeeignet ist, maskulistische bzw. männerrechtliche Standpunkte zu erklären und zu fördern. Stattdessen bietet er überzeugten Feministen eine hervorragende Gelegenheit, solche Standpunkte als verfehlt zu diskreditieren. Auch die äußeren Umstände, wie die ZEIT den Text verpackt, deuten auf diese Absicht hin.

I.f. gehen wir zuerst kurz auf die Beschränkungen ein, mit denen eine feuilletonistische Behandlung eines komplexen Themas wie "Feminismus" zu kämpfen hat. Danach folgt ein Versuch, die Thesen des Jessen-Essays kompakt zu rekapitulieren. In einem weiteren Abschnitt werden einige zentrale Kritikpunkte zum Jessen-Essay zusammengestellt. Am Ende gehen wir nur kurz auf die Reaktionen ein.



Das Feuilleton ist überfordert mit der Geschlechterdebatte

Feuilletons sind eine wesentliche Stätte der politischen Meinungsbildung, zumindest im Bildungsbürgertum, das wiederum unter Abgeordneten und anderen faktischen Machtinhabern extrem überrepräsentiert ist. Man kann davon ausgehen, daß z.B. diverse verfassungswidrige Gesetze gegen Männer hier mental durchgesetzt wurden. Nicht umsonst werden ZEIT, FAZ und ähnliche Medien als "Leitmedien" bezeichnet.

Feuilleton-Artikel im Themenbereich der Geschlechterdebatte sind i.d.R. verkappte anthropologische, soziologische und/oder psychologische Theorien: nämlich Behauptungen der jeweiligen Autoren, daß dies oder jedes empirisch der Fall ist, oft verbunden mit Theorien, wie es so und nicht besser kam, sowie moralischen Bewertungen des Status Quo oder der Historie, die angeblich zum Status Quo führte. Das vorgegebene äußere Format ist ein Fließtext, der nicht in Abschnitte strukturiert ist, keine Referenzen oder Belege enthält und der nicht entfernt den Ansprüchen an eine qualitativ hochwertige wissenschaftliche Publikation genügt. Letztere müssen ihre Thesen explizit und präzise definieren, i.d.R. überprüfbare empirische Nachweise bringen (und nicht nur private Meinungen und Eindrücke der Autoren, auch wenn diese korrekt sind).

Beispiel: Die These, daß ZEIT Online die MeToo-Kampagne extrem einseitig glorifiziert und wesentliche Kritikpunkte nicht zu Worte kommen läßt, ist jedem intuitiv klar, der die Berichterstattung im letzten halben Jahr verfolgt hat. Diese informell formulierte These ist aber unscharf und deshalb sehr leicht angreifbar. Was heißt "kamen nicht zu Worte"? Erst wenn man die knapp 200 Artikel durchsieht, kann man nachweisen, daß nur ca. 10% der Artikel einzelne Aspekte der Kampagne kritisiert haben und daß diese wenigen Kritiken in der Flut anderer Artikel untergehen, also kaum Publikum erreichen werden.

Diese Präzisierung von unscharfen Thesen in der Geschlechterdebatte ist eine Sisyphos-Arbeit, verzehnfacht den Platzbedarf und ist stilistisch mit einem Feuilleton unvereinbar. Feuilletons sind auch intellektuelle Selbstanpreisungen, die den Leser herausfordern sollen und damit Interpretationsspielräume eröffnen. Sie sind eher von Literaturwissenschaftlern geschriebene Literatur ("Stories") und keine möglichst leicht lesbaren, klar verständlichen Lehrbücher. Oft wird an Vorwissen appelliert.

Bei einer komplexen Materie wie der Geschlechterdebatte führt dies zu einem Totalversagen des Mediums Feuilleton, das gilt auch für den Jessen-Artikel und kann jetzt schon für die angekündigte Replik prognostiziert werden. Alle wesentlichen Thesen sind unscharf bzw. vergröbernd formuliert, oft nur mit einzelnen Beispielen belegt. Damit sind solche Text nach Belieben angreifbar (Beispiele folgen unten), zumal Appelle an das Vorwissen wegen weitgehender Ahnungslosigkeit vieler Debattenteilnehmer nicht funktionieren.



Die Thesen des Jessen-Essays

Jessen leitet seinen Text mit einem rhetorischen Zugeständnis an die feministische Weltsicht ein, wonach in der "restlichen Welt [alles außer der Film- und Medienbranche] Übergriffe, Missbräuche und Gewaltakte üblich waren" und vermutlich auch noch sind. Unheilschwanger wird angedeutet, daß jede Frau täglich oder wöchentlich oder jedenfalls regelmäßig die "üblichen" Gewaltakte erlebt. Er "reibt sich die Augen", daß diese Leiden erst so spät - erst durch die MeToo-Kampagne und nicht etwa schon durch Dutzende Kampagnen davor - sichtbar geworden sind.

Nach dieser Einleitung berichtet er von seiner Beobachtung, daß "Frauen, die sich in [diversen] Medien unentwegt äußern, den Ertrag der Debatte bislang als höchst unbefriedigend einschätzen", und zwar weil die Männer schweigen. Er bezieht sich dabei auf Artikel von März (08.03.2018) sowie Radisch (27.12.2017).

Man versteht den Text von Jessen nicht, wenn man nicht vorher den Artikel Die Faust in der Tasche von Ursula März, auf den Jessen sich mehrfach bezieht, gelesen hat. März beklagt, daß "die Männer" in der MeToo-Debatte inzwischen "lieber nichts sagen, bevor sie was Falsches sagen". Das Ausmaß "männlicher Selbstläuterung" erscheint ihr irreal und von "schierem Selbstschutz" motiviert zu sein und sei ggf. "unwillkürlicher Opportunismus". Wie schon hier ausführlicher erläutert definiert sie damit implizit "die Männer" als die männlichen Mitbewohner ihrer feministischen Filterblase - also nicht die Männer im normalen Leben -, und deren "Schweigen" als Befund, daß ihre Redebeiträge nur noch unterwürfige Zustimmungen und feministische Devotheitsbekundungen sind. "Schweigen" bedeutet also die Auslöschung jedes verbalen Widerstands gegen feministische Dogmen.
Wenn also Jessen im weiteren Verlauf von "Männern" oder deren "Schweigen" bzw. Ausschluß von Debatten spricht, dann bezieht er sich sehr wahrscheinlich (vgl. unten 4. inhaltlicher Kritikpunkt) genauso wie März implizit auf die Filterblase in der Medienbranche, in der Politik oder in ähnlichen radikalfeministischen Biotopen, nicht auf normale Männer und Frauen, was den Sinn des Textes entscheidend ändert. Dies wird sehr leicht übersehen und scheint zu vielen Falschinterpretationen des Textes zu führen.

Anschließend stellt er seine 1. These über den (heute real existierenden) Feminismus auf: Die MeToo-Kampagne hat ein "rhetorisches Hexenlabyrinth" geschaffen, in dem jede Äußerung eines Mannes zu Sachfragen zu seinem Nachteil ausgelegt wird, weil er als kollektiv mitschuldig denunziert wird. Unter Sachfragen sind hier die (angeblich) ungerechte Bezahlung, sexuelle Belästigung etc. von Frauen zu verstehen. Mit dieser Einschüchterung erklärt er das Schweigen der Männer in den Sachfragen.

Seine 2. These ist, daß mit ähnlichen Methoden Männern auch keine Metadebatte, warum sie zu den Sachfragen vorsichtshalber schweigen, erlaubt ist und daß sie alleine aufgrund ihres Geschlechts systematisch diskreditiert und faktisch - wie von März und Radisch sozusagen empirisch bestätigt - von der Debatte ausgeschlossen werden.

Ein hierbei benutztes Argument, das man als 3. These bezeichnen kann, ist, daß Männer - zumindest in den feministischen Leitmedien - nach Belieben denunziert werden können, indem man sie als "machtbesessen, geldgierig, egomanisch, wichtigtuerisch, sexistisch, fies" und Quelle aller Leiden der Frauen bezeichnet. "Können" in dem Sinne, daß derartige sexistische Äußerungen üblich sind und für die feministischen Verfasser folgenlos bleiben. Auf diese moralische Diskreditierung von Männern kommt er später mehrfach zurück, u.a. am Beispiel der Journalistin Judith Liere, die jeden beliebigen Mann in einer Bar verdächtigt, ihr K.O.-Tropfen ins Bier zu schütten.

Seine 4. These ist die "Ausweitung der Kampfzone" in dem Sinne, daß der feministische Forderungskatalog, in dem es ursprünglich um die Bekämpfung von (krasser) sexueller Belästigung ging, ausgedehnt wurde auf beliebige Kinkerlitzchen wie "frauenfeindliche" Bilder halb nackter Nymphen (vgl. thematische Verallgemeinerung von Twitter-Kampagnen). Die Übergriffe von Herrn Weinstein und pöbelhaftes breitbeiniges Sitzen in Straßenbahnen, zwei qualitativ gravierend verschiedene negative Verhaltensweisen, werden als unterschiedliche Phänomene desselben Unterdrückungs-Kontinuums beschreiben. Die Ausweitung der Kampfzone läuft auf einen allumfassenden Anspruch hinaus, beliebige gesellschaftliche Bereiche, die auch nur entfernt mit Frauen zu tun haben, alleinzuständig gestalten zu dürfen.

Seine 5. These ist, daß Männer in Kollektivhaftung genommen werden bzw. ihnen eine Kollektivschuld zugesprochen wird, auch für Vorfälle, an denen sie nicht beteiligt waren und die sie nicht hätten verhindern können. (Mehr dazu hier.)

Die 5. These relativiert er dahingehend, daß keineswegs alle Feministinnen diesen Standpunkt vertreten. Es gäbe dahingehende "kindischen Wallungen aus dem Internet", die man offenbar nicht ernst zu nehmen braucht, weil sie von selbstbezichtigten Feministinnen stammen. Mit Macht vertreten wird der Standpunkt hingegen von einer "überschaubaren Szene", deren Mitglieder wegen ihrer medialen Machtpositionen "mit ihren Kampagnen erhebliche Wirkung entfalten". Deren Macht hat sich z.B. an der überstürzt durchgepeitschten Verschärfung des Sexualstrafrechts gezeigt. (Mehr dazu hier.)

Eine Konsequenz hiervon ist die 6. These: Aufgrund ihrer kollektiven Verdächtigung bzw. moralischen Diskreditierung werden Männer zu Menschen 2. Klasse gemacht, die - zumindest in Geschlechterfragen - keinen Anspruch auf Gerechtigkeit mehr haben. Er zeigt dies an erfolgreichen Hetzkampagnen gegen Männer wie Tim Hunt oder Kollateralschäden der moralischen Panik und Lynchjustiz, die von der MeToo-Kampagne ausgelöst wurden. Hierdurch werden zentrale Ideale der Aufklärung, z.B. Gleichberechtigung aller Menschen, aufgegeben. An deren Stelle tritt das Denken in Kollektiven, deren Angehörigen unterschiedliche Rechte zugewiesen werden.

Die einseitige Aufgabe der Rechtsstaatlichkeit und basaler Menschenrechte für Männer schafft natürlich ein Rechtfertigungsproblem. Jessens 7. These ist, daß hierfür Logik, Vernunft, Objektivität und eine allen Menschen gemeinsame Rationalität aufgegeben werden, und zwar mit der Begründung, dies seien männliche (um nicht zu sagen patriarchale) Erfindungen. Die Idee einer von Herkunft, Klasse und Geschlecht unabhängigen Realität und darauf basierende Vernunft und Logik wird aufgegeben (Jessen erwähnt es nicht, aber dies ist fast wörtlich die offizielle Begründung der Gender-Mainstreaming-Doktrin: "es gibt keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit".)

Während sich der Feminismus gemäß seiner Hochglanz-Eigendarstellungen für die Gleichberechtigung nach Art. 3 GG einsetzt, betreibt er in der Realität also exakt das Gegenteil. Hieraus folgt die 8. These, daß der Feminismus nicht für die Behebung von Mißständen, sondern nur für "den Sieg der Partei" analog zu kommunistischen totalitären Systemen kämpft, also hier für die diktatorische Macht einer feministischen Elite in Politik und Medien. Damit dürfte er insbesondere die oben erwähnte "überschaubare Szene" meinen, nicht alle Feminstinnen (was offenbar regelmäßig falsch in diesen Text hineininterpretiert wird). (Vgl. hier.)



Kritik

Die Thesen von Jessen - so wie ich sie verstanden und oben wiedergegeben habe - stimmen praktisch komplett, zumindest wenn man sie qualitativ versteht, was offenbar seine Absicht war. Die beobachteten bzw. von ihm kritisierten Phänomene kann man mit sehr vielen Beispielen gut belegen, was er auch ansatzweise macht. Er könnte, wie in einem Interview behauptet, auch leicht die 10-fache Menge an Beispielen bringen - jeder, der die Szene kennt, kann wohl selber Dutzende Beispiele beisteuern. Insofern gibt er zumindest eine Reihe von Denkanstößen für Uneingeweihte und weist zutreffend auf diverse Probleme hin (auf die Blogs wie genderama, man-tau, allesevolution u.a. seit Jahren 100fach hingewiesen haben). So weit, so gut.

Der Essay weist trotzdem eine Reihe gravierender Defizite auf, die seinen Wert erheblich schmälern.

Der äußere Rahmen

Der Essay wird auf den Werbeseiten als Ein Wutausbruch von Jens Jessen (red) bezeichnet. Auch wenn diese Etikettierung nicht von Jessen stammt, verharmlost sie den Text als nicht ernst zu nehmendes Herumgetobe.

Verstärkt wird dieser Eindruck durch den mehrfachen Hinweis "In der nächsten Ausgabe widerspricht an dieser Stelle Bernd Ulrich: Die Emanzipation des Mannes hat gerade erst begonnen." (s. hierzu Nachtrag 12.04.2018) Man läßt Jessen etwas herumranten und rückt die Dinge danach zurecht, denn letztlich sind Jessens Thesen so umstritten, daß der Text ohne eine gouvernantenhafte Folgekritik und einen cordon sanitaire nicht alleine stehengelassen werden kann.

Faktisch adressiert der Jessen-Text einen politischen Skandal erster Güte, ohne ihn voll darzustellen, den institutionalisierten Feminismus bzw. Staatsfeminismus, der eine verfassungswidrige, demokratisch nicht legitimierte Machtfülle erreicht hat. Daß schon eine halbherzige und unvollständige Anprangerung dieses Skandals ins Lächerliche gezogen wird, paßt ins Bild.

Unklarer Feminismus-Begriff

Der Begriff Feminismus wird in der Praxis mit drei kategoriell verschiedenen Bedeutungen benutzt: (a) im Sinne einer sozialen Theorie bzw. Ideologie, (b) im Sinne einer sozialen Bewegung, also "Aktivisten", (c) im Sinne von Staatsfeminismus, also einer Machtstruktur, die analog zu einer Staatsreligion eine Unterwerfung unter die Ideologie durch Gesetze oder andere Druckmittel erzwingt.

(a) kann nicht gemeint sein, dies würde an den zahllosen, sich widersprechenden Feminismus-Varianten scheitern. Passend erscheint Bedeutung (b), der von ihm befürchtete "totalitäre Feminismus" unterstellt anscheinend Bedeutung (c).

1. inhaltlicher Kritikpunkt: Die Probleme werden nicht genau genug eingrenzt.

Wenn Jessen von einem "totalitären Feminismus" (These 8 und teilweise davorliegende Thesen) redet, hätte er genauer eingrenzen müssen, welche gesellschaftlichen Bereiche in welchem Ausmaß betroffen sind.

Im Baugewerbe, im Fernfahrergewerbe, in Kopfschlächtereien und vielen anderen Segmenten unseres Arbeitsmarkts ist von einem totalitären Feminismus nichts bekannt - aus unerfindlichen Gründen zeigt sich der institutionalisierte Feminismus hier komplett desinteressiert, für eine bessere Repräsentation von Frauen durch Quoten zu kämpfen. Anders sieht dies bei hochbezahlten Vorstandsposten aus, von denen durch verfassungswidrige Quoten - hier kommen wir dem Begriff totalitär sehr nahe - ein Teil leistungsunabhängig für Frauen reserviert werden soll. D.h. wenn überhaupt, dann hat Jessen nur Teile des Arbeitsmarkts gemeint, vielleicht aber auch den Arbeitsmarkt gar nicht und nur die politische Sphäre bzw. die Medienbranche. Leider wird das nicht klar.

2. inhaltlicher Kritikpunkt: Der starke Bezug auf die MeToo-Debatte ist falsch.

In der Einleitung und im Verlauf des Papiers stellt er die MeToo-Kampagne als wesentliche bzw. Hauptursache der diversen Thesen dar. Hiervon weicht er aber mehrfach ab, indem er z.B. die feministischen Hetzkampagnen gegen Rainer Brüderle (2013) oder Tim Hunt (2015) als Belege anführt. Diese Kampagnen lagen lange vor der MeToo-Kampagne, wiesen aber auch schon praktisch alle der inkriminierten Strukturen (notorischer Sexismus gegen Männer usw.) auf. Generell müssen die ca. 70 feministischen Twitter-Kampagnen der letzten 10 Jahre als Verbund gesehen werden, weil sie immer auf das gleiche Thema und die gleichen Methoden hinauslaufen.

Durch den speziellen Bezug auf MeToo serviert man Debattengegnern Optionen für Ablenkungsmanöver wie: ob der Text etwa die Taten von Weinstein und Co. verharmlosen wolle. Der Witz ist gerade, daß der konkrete Anlaß der Kampagnen keinerlei Rolle spielt für deren eigentliches Ziel, nämlich politischer Machtgewinn der feministischen Elite. Die konkreten Anlässe werden für das Empörungsmanagement instrumentiert, sie können oder sollen gar nicht beseitigt werden. Daß die zahllosen früheren Kampagnen anscheinend alle erfolglos waren und ständig neue gebraucht werden, ist kein Bug, sondern ein Feature der übergeordneten Strategie.

3. inhaltlicher Kritikpunkt: Die Thesen hätten viel überzeugender belegt werden können.

Diesen Kritikpunkt hätte man auch anders formulieren können: "Der Essay versucht, ein politisch/soziales Problem alleine durch Medienanalysen und literaturwissenschaftliche Methoden zu bearbeiten." Oder: "Ein Einwohner der feministischen Filterblase versucht, den Außeneindruck der Filterblase zu untersuchen."

Zunächst einmal stellt Jessen durch Rezitierung einiger feministischer Dogmen zwar nur nebenbei, aber doch hinreichend deutlich klar, daß er ein guter Feminist ist (sonst würde er auch in der ZEIT-Redaktion nicht überleben können). Als solcher ist man blind gegenüber Fakten, die negativ prägend für die Außenwirkung des Feminismus sind.

Nennenswert ist hier z.B. das Frauenstatut der Grünen, das i.w. eine Geschlechter-Apartheid (oder ein Matriarchat, wenn man es so ausdrücken will) implementiert, indem es den Frauen 50 - 100% aller Machtpositionen und aller Redebeiträge in Debatten sichert. Man bekommt diesen Markenkern des Feminismus vom wichtigsten politischen Vertreter des Feminismus schwarz auf weiß auf 20 Zeilen gratis frei Haus geliefert, ganz offensichtlich macht er Männer zu Menschen 2. Klasse. (Was Jessen eigentlich wissen müßte, wenn er regelmäßig die ZEIT lesen würde; die hat kürzlich, am 08.03.2018, der Grünen-Vorsitzenden Baerbock ausführlich Raum gegen, den Geschlechterrassismus der Grünen anzupreisen, weil man ihn laut Baerbock braucht, "um Gleichberechtigung zu erzielen"!! Die ZEIT macht sich hier zum Komplizen der grünen Geschlechter-Apartheid, während sie genauso rassistisches Gedankengut der AfD wohl kaum unkommentiert oder sogar leise bewundernd abdrucken würde.)

Statt nun kurz und knapp auf das Frauenstatut und ähnliche Bestrebungen in der SPD zu verweisen, bemüht Jessen sich auf sehr verschlungenen, leicht angreifbaren Argumentationsketten, seine These "Männer werden zu Menschen zweiter Klasse gemacht" zu belegen.

Mit Verweis auf die grüne Geschlechter-Apartheid hätte er auch sehr präzise sagen können, in welchem Sinne der real existierende Feminismus totalitär - ein ansonsten schwammiger Begriff - ist. Mit Verweis auf das Dienstrechtsmodernisierungsgesetz NRW hätte er leicht die völlige Skrupellosigkeit aufzeigen können, mit der die damalige rot-grüne Landesregierung NRW Art. 3 Grundgesetz gebrochen hat, um Frauen Vorteile zu verschaffen. Usw.usw., es gibt eine ellenlange Liste von Gesetzen, die Frauen privilegieren und die Jessen benutzen könnte, um seine Thesen zu präzisieren und mit unanfechtbaren Beweisen zu versehen.

Seine 3. These, wonach Männer - zumindest in den Leitmedien - nach Belieben denunziert werden können bzw. werden, ist tendenziell richtig, aber statistisch schwer zu belegen. Hier wäre ein Verweis auf die Dissertation von Christoph Kucklick sinnvoll gewesen, der die historischen Quellen des heute als vollkommen normal empfundenen Sexismus gegen Männer erforscht hat.

Mit Verweis auf die Baerbock-Aussagen (oder hunderte ähnliche von anderen Feministinnen) hätte er wunderbar seine 7. These begründen können, daß im Feminismus "Vernunft und Logik" aufgegeben werden.

4. inhaltlicher Kritikpunkt: Die virtuelle Realität der ZEIT wird mit der realen Realität verwechselt.

Jessens Thesen klingen völlig überzogen, wenn man sie auf "die Männer" im allgemeinen bezieht. Sie sind aber plausibel, wenn man sie nicht auf die Allgemeinheit, sondern auf das Biotop der Redaktionen der Mainstream-Zeitungen bzw. der politischen Journalisten und die dort herrschende feministische Hegemonie bezieht.

Nach diversen Untersuchungen der politischen Ausrichtung deutscher Journalisten ordnen sich fast alle Journalisten, die sich überhaupt einer Partei zuordnen, an erster Stelle den Grünen und dann der SPD zu, also zwei mehr oder weniger radikalfeministischen, männerfeindlichen Parteien. Alle anderen Parteien und nichtfeministische Standpunkte spielen praktisch keine Rolle. Der Gruppendruck, sich zur feministischen Ideologie zu bekennen, ist extrem. Eine fundamentale Kritik am Feminismus, z.B. Hinweise auf seine notorische Verfassungs- und Wissenschaftsfeindlichkeit, gelten als Blasphemie und sind allenfalls als "Wutanfall" (oder Troll-Journalismus oder Verfolgungswahn), also im Zustand der ggf. temporären Unzurechnungsfähigkeit tolerierbar, wenn überhaupt.

Die Thesen 1 - 3, 5 und 6 sind in der breiten Bevölkerung kaum haltbar. Im Biotop der Journalisten sind sie völlig offensichtlich und werden dort inhaltlich auch nicht als Skandal, sondern vollkommen normal angesehen, auch von Männern. Ein Indiz sind z.B. Haßtiraden von Männern gegen "die Männer" wie die kürzliche von Lars Weisbrod.

Bei Jessen, aber auch bei der von ihm zitierten Ursula März, hat man den starken Eindruck, daß sie ihre Lageanalysen aus den Verhältnissen in diesem Biotop und dem Weltbild, das dessen Presseerzeugnisse erzeugen, beziehen. Nun versteht sich eine Zeitschrift wie die ZEIT als "meinungsbildendes" feministisches Missionierungsinstitut mit einem Erziehungsauftrag. Wann immer eine Frau in Hintertupfingen etwas feministisch wertvolles macht, wird darüber groß berichtet, auch wenn es völlig atypisch ist - es ist als Vorbild gedacht, mithin Propaganda.

Jessen, März und vermutlich die meisten Journalisten in diesem Biotop fallen vermutlich auf die eigene Propaganda herein und halten die in der Propaganda imaginierten Zustände für real. Damit stellt sich die Frage, ob derart indoktrinierte Personen, die Verfassungsbrüche für völlig normal halten, überhaupt noch imstande sind, grundsätzliche Fehler ihrer Ideologie zu erkennen und angemessen zu behandeln. Daß Jessen hier so deutlich scheitert, eine fundierte Kritik am Feminismus aus einer Gesamtsicht zu produzieren, ist ein deutliches Indiz.



Reaktionen und Abwehrmuster

Die Reaktionen auf den Jessen-Essay sind überwiegend argumentfreie Wutanfälle (!) mit einem beachtlichen Sortiment an ad-hominem-Attacken und persönlichen Beleidigungen. Normalerweise gilt so etwas als Hate-Speech. (Wo steckt eigentlich no-hate-speech.de, wenn man sie wirklich mal braucht?)

Dieser Befund gilt erschreckenderweise nicht nur für anonyme Twitter-Benutzer, sondern auch für diverse nichtanonyme Twitter-Benutzer, die Journalist als Beruf angeben, und für fast alle Reaktionen in der Presse. Spiegelkritik (08.04.2018) stellt das flächendeckende journalistische Versagen detailliert dar. An dieser Stelle erneut der Hinweis auf das radikalfeministische Biotop "deutsche Journalisten".

Festhalten kann man hier den Eindruck, daß eine Diskussion über Standpunkte, die von feministischen Dogmen abweichen, mit dieser Presse praktisch nicht möglich ist. Sofern man den Jessen-Essay als Experiment ansieht, frei nach Roman Herzog mit einigen provokanten Formulierungen einen Ruck durch Deutschlands Pressewesen auszuprobieren, dann ist dieser Versuch wohl gescheitert (auch ohne die kommende offizielle Gegendarstellung in der ZEIT).

Abwehrmuster "wahrer Feminismus"

Unter den wenigen Reaktionen, die zumindest versuchen, sich mit den Thesen von Jessen zu befassen und sie zu widerlegen, dominiert nach meinem nicht notwendigerweise repräsentativen Eindruck das klassiche Abwehr- bzw. Trugschlußmuster "wahrer Feminismus":
Der Feminismus ist gut, denn alles, was nicht gut ist, ist kein wahrer Feminismus.
Als Konseqzenz dieses Trugschlusses hat Jessen Unrecht, dem Feminismus irgendwelche negativen Dinge zuzuschreiben und seine Segnungen zu bezweifeln. Der hier vorliegende Trugschluß wird oft nicht bewußt vorgenommen, sondern liegt an fehlenden Kenntnissen (oder Lernunwilligkeit), was es nicht besser macht.


Nachtrag 12.04.2018: die "Replik" von Bernd Ulrich

Inzwischen ist die groß angekündigte Replik von Bernd Ulrich erschienen, die in den sozialen Medien wie zu erwarten von Geistesverwandten mit Lob überschüttet wird.

Von einer Replik im eigentlichen Sinne kann hier aber kaum gesprochen werden. Dazu müßten die zentralen Thesen von Jessen, z.B. der Sexismus gegen Männer und die Entwicklung totalitärer Strukturen, benannt und kritisiert werden. Dies geschieht allenfalls punktuell in (Neben-) Bemerkungen, die außerdem die Thesen nicht direkt widerlegen, sondern nur Jessens Begründungen bemängeln, und oft nur mit persönlichen Anekdoten. Gut die Hälfte der "Replik" besteht darin, die "Verhexung des weiblichen Körpers" und andere tägliche Leiden von Frauen zu beschreiben, die persönliche Mannwerdung von Ulrich nachzuerzählen und eine fluide, sich immer wieder hinterfragende "Männlichkeit" anzupreisen. Dies sind typische Textbausteine aus Anpreisungen des Gender-Feminismus bzw. aus dem Parteiprogramm der Grünen, mit einer Kritik an Jessens Thesen hat das nichts zu tun.

Meine Kritik am Jessen-Essay, durch unklar definierte Begriffe Fehlinterpretationen zu provozieren und damit eine inhaltliche Debatte zu verunmöglichen, gilt um den Faktor 3 verstärkt für den Text von Ulrich. Begriffe wie "Feminismus" oder "Männlichkeit" bleiben reine Worthülsen, die ein Leser nach Belieben konkretisieren kann bzw. muß, um dem Text einen Sinn zu geben. Besonders gilt dies für den prominent plazierten feministischen Kampfbegriff "Patriarchat", s. hierzu die Kritik "Über den jüngsten Mißbrauch des Patriarchatsbegriffs". Es bestätigt sich der Eindruck einer Pseudo-Debatte, die nur Worthülsen austauscht, aber nicht zum Kern der Probleme vordringt.



Quellen