Samstag, 19. Dezember 2020

Sensibles Canceln und akkreditierte Vulnerabilität


Wenn demnächst politische Jahresrückblicke geschrieben werden, hat Thema Cancel Culture oder allgemeiner Meinungsfreiheit gute Chancen, erwähnt zu werden. Es brodelt schon länger, der offene Brief im Harper's Magazine war ein weltweiter Paukenschlag, das IDW Europe gründete sich, Herr Kubicki schrieb ein Buch über Meinungsunfreiheit und in etlichen Diskussionsrunden unterhielten sich Mitglieder der medialen bzw. politischen Elite, die unter sich ausmachen, was gerade "die öffentliche Meinung" ist, darüber, warum mediale Habenichtse wie ich z.B. den Eindruck haben, keine Stimme zu haben und die eigene Meinung gecancelt zu sehen. So auch vor einigen Tagen auf Phoenix eine Runde von 5 Prominenten. Kurz davor hatten zwei aus dieser Runde (Kubicki und Flaßpöhler) auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNS) schon einmal über das gleiche Thema diskutiert, warum auch nicht. Es moderierte Gunnar Kaiser, Mitinitiator des IDW-Europe und Kritiker der Corona-Maßnahmen; dieser wurde von einem anonymen Twitterer bei der FNS deswegen als "rechts" angeschwärzt, worauf die FNS sich innerhalb weniger Stunden entsetzt von Kaiser distanzierte und jede künftige Kooperation cancelte. Findet hier gerade ein soziales Experiment mit dem breiten Publikum statt? Gibt es den Darwin Award eigentlich auch für politische Institutionen?
Sensibel ist das neue woke
Die liberale Cancel-Kultur der FNS erschien einigen recht unsensibel. Sie verblüfft vor allem insofern, als Flaßpöhler in der FNS-Debatte Sensibilität als zentralen Aspekt der Meinungsfreiheit und als Rezept, wie man dem verhärteten Debattenklima entgegenwirken kann, ins Gespräch brachte. Genauso argumentierte sie auch in der Phoenix-Diskussion, und Ende 2019 war es Schwerpunktthema einer Ausgabe ihres Philosophie Magazins. In dieser Ausgabe preist der Soziologe Andreas Reckwitz den zivilisatorischen Fortschritt, den die zunehmende Sensibilität gebracht hat, warnt aber zugleich vor Übertreibungen und läßt den Leser am Ende ratlos zurück, was denn nun das richtige Maß sei. Sucht man nach Gründen für diese Ratlosigkeit, fällt einem auf, daß Flaßpöhler, Reckwitz und andere Befürworter von mehr Sensibilität zwei gegensätzliche Bedeutungen des Begriffs sensibel nicht klar unterscheiden:
  1. empfindlich, mimosenhaft, Ansprüche an das Verhalten anderer stellend, bis zur Extremform "Schneeflocke"
  2. empathisch, für andere mitdenkend, Rücksicht nehmend, keine Ansprüche stellend, sondern Ansprüche anderer erfüllend (freiwillig oder unfreiwillig)
Dies entspricht den beiden konstitutiven Rollen in einer Situation, in der das Phänomen Sensibilität auftritt. Nun geht es in politischen Debatten fast immer darum, wer welche Ansprüche stellen kann und welche anderen diese Ansprüche erfüllen sollen, und wieso überhaupt. Der Begriff Sensibilität verschleiert diesen Interessengegensatz, er ist daher völlig ungeeignet für die Debatte um die Debattenkultur. Der Appell, sensibel bzw. noch sensibler als bisher zu sein, wird allenfalls den Anspruchstellern gefallen, weil er sie davon entlastet, ihre Ansprüche zu begründen, und ihre Anspruchshaltung verschleiert.

Nicht hilfreich war, daß Flaßpöhler - fast schon unvermeidlich - Frauen und Transsexuelle als "marginalisierte" Minderheiten erwähnte, denen gegenüber Sensibilität besonders angebracht sei. Ausgerechnet diese Gruppen sind berüchtigt dafür, ihren Anspruch auf Rücksichtnahme auf ihre Befindlichkeiten knallhart durchzusetzen und sehr erfahren in Hetzkampagnen und im Canceln zu sein. Beispiele sind unzählige mißliebige Personen, die im Rahmen der MeToo-Kampagne gecancelt wurden, oder die Welle an Haß, die auf JK Rowling hernieder ging, weil sie es wagte, Orthodoxien der Trans-Aktivisten anzuzweifeln. Nicht zu reden davon, daß diese "marginalisierten" Gruppen eine praktisch hegemoniale Machtposition in den Redaktionen fast aller großen Medien und vieler großer Unternehmen haben und von oben her durchregieren können. Vor allem die Transsexuellen-Lobby, die die Interessen einer mikroskopisch kleinen Minderheit vertritt, liefert ein Musterbeispiel für das Phänomen "Diktatur der Minderheiten". Das Paradox der mächtigen Schutzbedürftigen blieb leider unaufgelöst.

Man kann sich fragen, worin sich die in letzter Zeit gehypte Sensibilität eigentlich von der Wokeness unterscheidet. Antwort: kaum. Woke ist nebulös bzw. schlecht verständlich und bekommt zunehmend Gegenwind. Sensibel ist positiver konnotiert und hat sich auch schon als Kampfbegriff "gender-sensibel" bewährt. Sensibel hat gute Chancen, das neue woke zu werden.

Unwort das Jahres: vulnerabel
Vulnerabel ist der Modebegriff schlechthin in den Debatten um die Debattenkultur geworden, anzuwenden auf Mitglieder "marginalisierter" Gruppen, die besonders schonend zu behandeln sind oder die Veto-Rechte in den Debatten haben sollen. Der Duden listet als Synonyme: verwundbar, [hoch] empfindlich, [leicht] verletzbar, verletzlich. Also ziemlich genau sensibel, Variante (a), leicht gesteigert.

Verwundbar ist aber praktisch jeder, wie man in den feministischen bzw. transaktivistischen Shitstorms gelernt hat. D.h. der Begriff ist wörtlich genommen und ohne nähere Bestimmung unbrauchbar für die Unterscheidung bestimmter Klassen von Debattenteilnehmern. Sinn bekommt er erst dadurch, daß er einer identitären Gruppe in den meinungsbildenden Medien zugeschrieben wird. Man muß sozusagen als schützenswerte Spezies bei der medialen Elite akkreditiert werden, um den Status "vulnerabel" zu erhalten.

Die Verwendung von "vulnerabel" hat aus Sicht seiner Benutzer den Vorteil, daß man nicht so oft "marginalisiert" sagen muß. Es ist aber die gleiche Täuschung.

Kann das weg? Ja.

Erinnerungen an die Privilegientheorie
Die Älteren unter uns erinnern sich eventuell an die Debatten vor etwa 6 - 7 Jahren im Gefolge der Aufschrei-Kampagne. Damals stand das Privileg, Mann zu sein ("male privilege"), unter heftigem Beschuß, verbunden mit der ultimativen Aufforderung, es umgehend aufzugeben. Diese Argumentationsstruktur wurde auch als feministische Privilegientheorie bezeichnet. In ihr wird der Begriff Privileg pervertiert, die Feststellung, wer ein Privileg hat, ist völlig willkürlich und obliegt einem neuen Adelsstand, und es werden auf höchst undemokratische Weise Rechtsansprüche generiert. Nach und nach wurde das vielen klar, vielleicht war das der Grund, warum die These vom male privilege aus den Debatten verschwand. Vielleicht auch, weil es männliche Transsexuelle gibt und Transsexuelle neuerdings ganz oben in der Opferstatushierarchie stehen.

Wenn man nun die Argumentationsstrukturen der Privilegientheorie und der "neuen Sensibilität / Vulnerabilität" vergleicht, dann - Überraschung - sind beide in ihren Grundzügen gleich, weisen die gleichen Probleme und Paradoxien auf und laufen auf undemokratische Strukturen hinaus. Im Kern steht jeweils eine mediale bzw. politische Elite (um nicht zu sagen ein neuer Adel), der bestimmt, wer als besonders schutzwürdig anerkannt wird und wer sich wegen seiner unverdienten "Privilegien" zurückhalten soll.

Damit wird nicht nur Ungleichheit unter den Debattenteilnehmern geschaffen, zugleich werden auch auf der Sachebene die Themen der Schutzwürdigen priorisiert. Die Priorisierung von Themen ist aber eine zentrale demokratische Aufgabe.

Quellen