Freitag, 1. Januar 2021

Winterschule "Mediendemokratie", Folge 3: Mediokratie


In der vorigen Folge der Winterschule "Mediendemokratie" hatten wir die demokratische Teilhabe vom Standpunkt eines Individuums aus betrachtet und waren von dessen unbestreitbaren quantitativen und qualitativen Beschränkungen ausgegangen. In dieser Folge verschieben wir den Betrachtungsstandpunkt weg vom "mündigen Bürger" und hin zu den Akteuren in den Medien und in der Politik.

Der Begriff "Mediokratie" im Titel stammt von dem Politikwissenschaftler Thomas Meyer. Er soll ausdrücken, daß die medialen und politischen Systeme untrennbar verwoben sind. Ein zentraler Aspekt hierbei ist die Beobachtung, daß Politiker die Massenmedien benötigen, um ihre politischen Konzepte dem Publikum unterbreiten und rechtfertigen zu können und sich dabei den Funktionslogiken der Massenmedien unterwerfen müssen(1). Mit dem Aufkommen vom Fernsehen als mit Abstand reichweitenstärkstem Massenmedium wurde dessen Funktionslogik zur harten Vorgabe für erfolgreiche Politik. Dies hatte einen enormen Einfluß darauf, was unter demokratischen Debatten, öffentlicher Meinung oder sogar Demokratie schlechthin verstanden wird.

Visuelle Medien haben generell, egal ob privatwirtschaftlich oder öffentlich finanziert, eine vollkommen andere Funktionslogik als politische Debatten und die klassischen diskursiven Prozesse der Bildung einer öffentlichen Meinung, z.B. innerhalb oder zwischen Parteien. Die idealtypischen demokratischen Debatten unterstellen einen längeren Zeitraum, in dem Konzepte und Argumente von vielen Debattenteilnehmern vorgebracht und von Meinungsgegnern gründlich überprüft werden können, überwiegend auf Basis von Texten. Ziel ist, nach einigen Iterationen einen Kompromiß zu finden, den alle mittragen können. Hierbei werden idealerweise Widerstände graduell abgebaut und Meinungen geändert. Visuelle Medien verlangen stattdessen im Stunden- oder Tagestakt nach Neuigkeiten und Sensationen, ideal sind harte Konflikte und Bilder. Die äußere Erscheinung, das Auftreten und die Schauspielkunst von Politikern gewinnen enorm an Bedeutung ("Theatralisierung von Politik") und werden wichtiger als politische Programme.

Der Übergang von einer Zeitschriften- und Buchkultur zu einer Fernsehkultur in den 1960er Jahren führte daher zu tektonischen Verschiebungen in der Art und Weise, wie Politik betrieben wird und wie Demokratie funktioniert(2). Reporter und Kommentatoren in reichweitenstarken Medien, namentlich im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, werden zu Schiedsrichtern über Personen und Programme oder selber zu politischen Aktivisten. Weil sie die Karriere von Politikern bremsen oder befördern können, gewinnen sie eine demokratisch nicht legitimierte Macht über das politische Personal (zusätzlich zu ihrem Einfluß auf die Meinung des breiten Publikums in Sachthemen).

Besonders deutlich wird die Theatralisierung von Politik und die Machtverschiebung hin zu den Inhabern medialer Machtpositionen bei den Polit-Talkshows (von Anne Will, Maybrit Illner usw.). Schon 2003 vertrat der legendäre Frank Schirrmacher die These, die Talkshows "bestimmten die politische Agenda in Deutschland mittlerweile mehr als der deutsche Bundestag" und die weiblichen Gastgeber der Shows seien "die einflußreichsten politischen Vermittlungsinstanzen des Fernsehens". Die mediale Macht dieser Frauen dürfte entscheidend zum Siegeszug der feministischen Ideologie beigetragen haben. Wie knallhart hier indoktriniert wird, ist aktuell gut erkennbar bei Anne Will, die die Gender-Sprechpause als Symbol der Unterwerfung unter die feministische Ideologie durchsetzt, obwohl ca. 90% der Bevölkerung diese Sprachreform bzw. Indoktrination ablehnen. Ein so offensichtliches Agieren ist aber die Ausnahme. Viel subtiler und nachhaltiger wird indoktriniert, indem man nur Gäste mit passenden Meinungen einlädt, durch Setzen der Themen die Aufmerksamkeit steuert ("Agenda Setting") und die Diskussion durch Einspieler oder die Gesprächsleitung in die "richtige" Richtung lenkt.

Materialien:
  1. [ca. 35 Minuten Lesezeit] Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer stellt in Meyer (2002) die unterschiedlichen Zeitskalen in klassischen demokratischen Prozessen bzw. medialen Systemen anschaulich dar. Gravierende, auf den ersten Blick nicht erkennbare Konsequenzen sind der Machtgewinn des medial im Mittelpunkt stehenden Spitzenpersonals der Parteien und der Bedeutungsverlust von Parteien und von vergleichbaren sozialen Strukturen, die wesentlich für die breite Konsensfindung und Akzeptanz politischer Entscheidungen sind.
  2. [30 Minuten Lesezeit] Meyer (2004) vertieft die schon erwähnte "Theatralisierung von Politik". Dass Politik inszeniert wird, ist grundsätzlich nichts Neues und normal. Es kommt allerdings auf die Dosis an. In einer Mediendemokratie bzw. einer Fernsehkultur steigen die Anforderungen an die Inszenierung politischer Inhalte quantitativ (hinsichtlich der Häufigkeit) und qualitativ drastisch an. Politischer Wettbewerb verlagert sich von den Sachthemen hin zur Optimierung der Selbstdarstellungen und medialen Inszenierungen. Politiker müssen regelrecht Schauspielunterricht nehmen, um ihre Gestik, Haltung, Stimme usw. zu optimieren, und über Erfolg von Politik entscheiden wesentlich die schauspielerischen Leistungen. Politische Aktivität wird gelenkt in Richtung Event-Politik (Scheinereignisse), Image-Pflege und Scheinhandlungen.
  3. [ca. 30 Minuten Lesezeit] Polit-Talkshows, speziell solche auf guten Sendeplätzen, stellen für das breite Publikum seit langem die wichtigste, vielleicht sogar einzige Möglichkeit dar, zumindest passiv an politischen Debatten teilzunehmen. Gaebler (2011) präsentiert eine sehr gründliche Analyse der Polit-Talkshows(3). Die 154 Seiten der Studie muß man nicht komplett lesen. Unbedingt lesen sollte man das Vorwort auf S. 1-2, das eher eine Zusammenfassung der Studie ist, das Kapitel "Einführung" (S. 5-11), das einen sehr guten Einblick gibt, wie die Polit-Talkshows inszeniert werden und welche heimliche Agenda als zweite Ebene der politischen Debatte, die an der TV-Oberfläche nicht erscheint dabei eine Rolle spielt, und die Handlungsempfehlungen S.117-118 (die scheinbar niemand befolgt hat).

    Bei Lust auf mehr empfehle ich Kapitel 7, S. 105-109. "'Wir brauchen die Fraktionsvorsitzenden' - Talkshow als Ersatzparlament?". Wirkliche politische Auseinandersetzungen finden eigentlich nur im Parlament statt. Talkshows sind i.d.R. nur simulierte politische Auseinandersetzungen, weil sie letztlich Unterhaltung sind. Es geht in diesem Text auch um die prinzipielle Frage, welche Arten von Debatten und Verhandlungen für ein breiteres Publikum und dessen Information und Meinungsbildung geeignet sind und inwieweit die Komplexität politischer Debatten durch Personalisierung, also Vertrauen in prominente Akteure, reduziert wird.

  4. [ca. 10 Minuten Lesezeit] Von Polit-Talkshows zu unterscheiden sind Politikmagazine wie Monitor, Report oder Frontal 21. Gegenüber Polit-Talkshows haben die Politikmagazine seit langem deutlich an Bedeutung verloren. Gäbler (2015) stellt die wichtigsten Magazine vor und untersucht die Ursachen für deren Bedeutungsverlust. Lesenswert ist hier vor allem das Kapitel 5. Resümee: "Wie politisch sind die Politikmagazine?", S. 91-96.

    Trotz des eher beklagenswerten Zustands der Politikmagazine kann es durchaus lohnen, sich gezielt einzelne Folgen bzw. einzelne Beiträge daraus anzusehen. Von Polit-Talkshows kann hingegen grundsätzlich abgeraten werden, sofern man politisch interessiert ist und sich einigermaßen ausgewogen informieren will: man bekommt woanders mit weniger Zeitaufwand bessere Informationen, nicht zu reden davon, daß man besser selber bewußt entscheidet, welche Themen einem wichtig sind und aus welchen Quellen man sich informiert.

Quellen
Anmerkungen

(1) Zumindest in einem großen Flächenstaat, in den historischen griechischen Demokratien mit kleiner, lokal erreichbarer Bevölkerung galt das nicht.

(2) Das Internet als neues Medium führte in den 2000er Jahren zu weiteren Verschiebungen, die wir erst später behandeln werden.

(3) Analysiert wurden Polit-Talkshows im Frühjahr 2011. Obwohl dies fast 10 Jahre zurückliegt, trifft die Analyse abgesehen vom Austausch einiger Namen und Modethemen auch heute noch voll zu.