Dienstag, 5. Januar 2021

Der Caliphate-Skandal der New York Times


Eigentlich wäre heute die nächste Folge der Winterschule "Mediendemokratie" fällig. Stattdessen pausieren wir und berichten von einem Skandal bei der New York Times. Er ist ein sehr gutes Beispiel für die Veränderungen bei der New York Times, von denen eher abstrakt unter Punkt d (Rothstein-Bericht) in der letzten Folge ist die Rede war. Der Skandal hat auch alle Chancen, bei den aktuell fälligen Jahresrückschauen einen Platz beim Thema Medienskandale zu bekommen.

Er wurde kurz vor Jahresende publik und erregte in den USA erhebliches Aufsehen. Hierzulande wurde der Skandal bisher abgesehen von einer DPA-Meldung am 19.12.2020 kaum wahrgenommen und eingeordnet. Man kann ihn ganz grob als eine Mischung aus dem Hitler-Tagebücher-Skandal und dem Relotius-Skandal bezeichnen.

Die Falschberichte
Im Zentrum des Skandals steht der Podcast "Caliphate", der von der New York Times veröffentlicht wurde. Die inhaltliche Leitung hatte die Star-Reporterin Rukmini Callimachi. Ab dem 19. April 2018 wurde einmal pro Woche eine Folge von ca. 30 Minuten Dauer veröffentlicht, insgesamt 11 Folgen lang.

Gegenstand des Podcasts waren Greueltaten des ISIS. Hauptauskunftsquelle war ein angeblicher ehemaliger ISIS-Kämpfer, der seinen Namen mit Abdul Huzaifa al-Kanadi (andere Schreibweise: Abu Huzayfah) angab. Huzaifa steht im Mittelpunkt der meisten Folgen, er ist die zentrale Quelle der Darstellungen. Nach eigener Auskunft hatte er selber Morde und andere abscheuliche Taten begangen. Der Podcast wurde aufgrund der sensationellen Inhalte millionenfach heruntergeladen.

Huzaifa lebte seinerzeit frei in Kanada, was zur naheliegenden Frage führte, ob die öffentliche Sicherheit durch ihn gefährdet werde. Der Fall geriet in die Schlagzeilen und führte zu Vorwürfen der Opposition an die Regierung, untätig zu sein. Die Sicherheitsbehörden untersuchten den Fall offenbar deutlich gründlicher als Rukmini Callimachi und kamen zum Ergebnis, seine Aussagen seien frei erfunden. Sie verhafteten Huzaifa, dessen richtiger Name Shehroze Chaudhry ist, am 25.09.2020 wegen "hoax-terrorist activity" (ein Straftatbestand, der eigentlich Panikerzeugung durch falschen Bombenalarm betrifft).

Die New York Times startete daraufhin eine "frische Untersuchung" ("a fresh examination") und kam im Dezember i.w. zur gleichen Einschätzung wie die kanadischen Sicherheitsbehörden. Sie veröffentlichte am 18.12.2020 eine ausführliche eigene Darstellung des Falls. Danach waren die kanadischen Behörden schon seit 2016 auf Chaudhry, der in diversen sozialen Netzen mit seinen angeblichen Taten prahlte, aufmerksam geworden und hatten schon 2018 angebliche Beweisfotos als Fälschungen erkannt, konnten seinerzeit aber auch nicht ausschließen, daß seine Aussagen irgendeinen wahren Anteil enthielten.

Reaktionen
Die New York Times hat die Podcast-Folgen nicht zurückgezogen bzw. gelöscht, sondern bei allen Folgen einen Warnhinweis ergänzt, der auf wesentliche Fehler in den Darstellungen hinweist.

Die New York Times bzw. Callimachi hatten mehrere Journalismuspreise für den Podcast bekommen, darunter einen sehr renommierten. Die Preise wurden von den Stiftern widerrufen bzw. von der New York Times freiwillig zurückgegeben.

Callimachi wurde, obwohl sie einen enormen Reputationsschaden verursacht hat, nicht entlassen, sondern mit einer anderen, nicht publik gemachten Aufgabe betraut. Diese "Strafe" ist lächerlich im Vergleich dazu, aus welchen Gründen in letzter Zeit Mitarbeiter der New York Times wegen politisch unerwünschtem Verhalten gehen mußten bzw. weggemobbt wurden.

Der Skandal erzeugte erhebliche Aufmerksamkeit und ausführliche Berichte in anderen Zeitschriften bzw. Medien in Nordamerika, zunächst Anfang Oktober 2020 nach der Verhaftung von Chaudhry und dann noch einmal nach der faktischen Zurücknahme des Podcasts Mitte Dezember. Man kann von einem medialen Erdbeben und einem massiven Imageschaden der New York Times reden.

Ursachen
Nach den Ursachen, wie es zu diesem Desaster kommen konnte, hat New York Times selber gesucht; der Untersuchungbericht Mazzetti (2020) ist zwar sehr lang und enthält einige neue Details, er nennt aber letztlich nicht wirklich die Verantwortlichen. Noch nicht einmal Callimachi wird namentlich erwähnt. Der Bericht zieht sich wiederholt darauf zurück, bei investigativem Journalismus seien nie alle Zweifel ausräumbar. Auch ein parallel erschiener Artikel, Tracy (2020), urteilt eher zurückhaltend.

Andere Berichte, sogar einer in der New York Times, stellen die Angelegenheit deutlich kritischer dar und bescheinigen sowohl Callimachi persönlich wie auch den internen Kontrollmechanismen gravierende, selbstverschuldete Fehlleistungen. Es hatte schon im Vorfeld, bevor der Podcast auf Sendung ging, vielfache Hinweise auf die fehlende Glaubwürdigkeit des Hauptzeugen und andere Unstimmigkeiten gegeben. Anstatt diesen Hinweisen nachzugehen, wurde versucht, die Sensationsstory zu retten. Denn genau solche Geschichten wollen die Leser lesen (Relotius läßt grüßen). Es spielte auch keine Rolle, daß Callimachi schon früher unsauber recherchiert und "Sensationen" aufgebauscht, um nicht zu sagen erfunden hatte. Callimachi wurde trotz ihrer Fehler von den Herausgebern und den Besitzern protegiert, nicht zuletzt wahrscheinlich deswegen, weil sie als Frau und als Flüchtling (aus Rumänien in den 1980er Jahren) gleich in zwei wichtigen Kategorien die richtigen Personenmerkmale hatte und weil sie Sensationen lieferte. Smith (2020) sieht dahinter einen grundlegenden Wandel der New York Times weg von sorgfältiger, aber dröger Berichterstattung hin zu spannenden Stories.

Einordnung
Die New York Times ist eine Institution in den USA. Mit über 1000 Redakteuren und einer entsprechenden logistischen Infrastruktur hat sie die mit Abstand größte Redaktion aller Zeitungen in den USA. Sie genießt erhebliches Vertrauen, zumal es in den USA praktisch keinen öffentlich-rechtlichen Runfunk gibt, der Zeitschriften Konkurrenz machen kann. Daher hatte der Caliphate-Podcast auch deutlichen Einfluß darauf, daß der ISIS in der öffentlichen Meinung der USA als sehr gefährlich eingeschätzt wurde. Umso schlimmer ist, daß dieses Vertrauen aufgrund gravierender interner Fehlleistungen enttäuscht wurde.

Callimachi wurde 2014 von der New York Times eingestellt, also genau in dem Zeitraum, in dem laut Rothstein (2020) der große Personalaustausch bei der New York Times begann. In 2014 wurde auch der erste Afroamerikaner Chefredakteur (Dean Baquet).

Ein Jahr später, 2015, wurde Nikole Hannah-Jones bei der New York Times fest angestellter Autor. Hannah-Jones verschaffte der New York Times einen ähnlichen Imageschaden wie Callimachi. Sie ist Hauptverantwortlicher für das 1619 Project, das die Geschichte der USA neu schreiben wollte: danach beruhte die Geschichte der USA durchgängig von den frühesten Anfängen an auf Sklaverei. Dies wurde schon 2019 bei der Veröffentlichung von zahlreichen seriösen Geschichtsprofessoren als unhaltbare Geschichtsklitterei heftig kritisiert. Die New York Times weigerte sich anfangs, die Darstellungen zu korrigieren. Irgendwann Anfang 2020 änderte man dann aber doch zentrale Behauptungen ab, ohne dies kenntlich zu machen oder mitzuteilen. Die heimlichen Änderungen wurden erst im Sommer 2020 bemerkt und entsprechend empört kommentiert. Der zwangsläufige Eindruck war, daß die New York Times bewußt falsche - woke - Darstellungen produziert hatte und erst davon abrückte, als deren Falschheit aufgrund des massiven öffentlichen Protests nicht mehr geleugnet werden konnte.

Die Hauptpersonen bei den Skandalen um das 1619 Project und den Caliphate-Podcast haben auffällige Gemeinsamkeiten: es sind Frauen, sie gehören als Farbige oder Migranten zu einer "marginalisierten" identitären Gruppe, sie wurden nach der "Wende" 2014/15 eingestellt, und sie erfreuen sich extremen Wohlwollens seitens der Besitzer, werden also auch bei skandalösen Fehlleistungen nicht gefeuert. Das dürfte kein Zufall sein.

Quellen
  1. Rukmini Callimachi: A Train Journey From Communism to Freedom, Almost Ended in Hungary. New York Times, 06.09.2015. https://www.nytimes.com/2015/09/07/world/europe/a-train ... ry.html
  2. Sean Kilpatrick: Tories Press Liberals To Go After Canadian Who Told New York Times He Killed For ISIS. Huffington Post, 11.05.2018. https://www.huffingtonpost.ca/2018/05/11/tories-liberal ... 432879/
  3. Mark Mazzetti, Ian Austen, Graham Bowley, Malachy Browne: A Riveting ISIS Story, Told in a Times Podcast, Falls Apart. New York Times, 18.12.2020. https://www.nytimes.com/2020/12/18/world/middleeast/caliphate-chaudhry-hoax.html
  4. James North: `NY Times' tries but fails to clean up multiple failures by `Jihadism Terror' reporter, Rukmini Callimachi. mondoweiss.net, 18.12.2020. https://mondoweiss.net/2020/12/ny-times-tries-but-fails ... imachi/
  5. O Division RCMP Integrated National Security Enforcement Team charges a man with hoax in relation to terrorist activity. Royal Canadian Mounted Police, Toronto, Ontario, 25.09.2020. https://www.rcmp-grc.gc.ca/en/news/2020/o-division-rcmp ... elation
  6. Ben Smith: An Arrest in Canada Casts a Shadow on a New York Times Star, and The Times. New York Times, 11.10.2020. https://www.nytimes.com/2020/10/11/business/media/new-y ... te.html
  7. Bret Stephens: The 1619 Chronicles. New York Times, 09.10.2020. https://www.nytimes.com/2020/10/09/opinion/nyt-1619-project-criticisms.html
  8. Marc Tracy, Katie Robertson and Tiffany Hsu: New York Times Says `Caliphate' Podcast Fell Short of Standards. New York Times, 18.12.2020. https://www.nytimes.com/2020/12/18/business/media/new-y ... st.html
  9. Erik Wemple: The Caliphate retraction wont end the New York Times's woes. Washington Post, 20.12.2020. https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/12/20/cali ... s-woes/