Eigentlich wäre heute die nächste Folge der Winterschule
"Mediendemokratie" fällig.
Stattdessen pausieren wir und berichten von einem Skandal
bei der New York Times. Er ist ein sehr gutes Beispiel für
die Veränderungen bei der New York Times, von denen
eher abstrakt unter Punkt d
(Rothstein-Bericht) in der letzten Folge ist die
Rede war. Der Skandal hat auch alle Chancen, bei den aktuell
fälligen Jahresrückschauen einen Platz beim Thema
Medienskandale zu bekommen.
Er wurde kurz vor Jahresende publik und erregte in den USA
erhebliches Aufsehen.
Hierzulande wurde der Skandal bisher abgesehen von einer
DPA-Meldung am 19.12.2020 kaum wahrgenommen und eingeordnet.
Man kann ihn ganz grob als eine Mischung aus dem
Hitler-Tagebücher-Skandal und dem Relotius-Skandal
bezeichnen.
Die Falschberichte
Im Zentrum des Skandals steht der Podcast "Caliphate", der von der New York Times veröffentlicht
wurde. Die inhaltliche Leitung hatte die Star-Reporterin Rukmini Callimachi.
Ab dem 19. April 2018 wurde einmal pro Woche eine Folge von
ca. 30 Minuten Dauer veröffentlicht, insgesamt 11 Folgen
lang.
Gegenstand des Podcasts waren Greueltaten des ISIS.
Hauptauskunftsquelle war ein angeblicher ehemaliger
ISIS-Kämpfer, der seinen Namen mit Abdul Huzaifa al-Kanadi
(andere Schreibweise: Abu Huzayfah) angab. Huzaifa steht im
Mittelpunkt der meisten Folgen, er ist die zentrale Quelle
der Darstellungen. Nach eigener Auskunft hatte er selber
Morde und andere abscheuliche Taten begangen. Der Podcast
wurde aufgrund der sensationellen Inhalte millionenfach
heruntergeladen.
Huzaifa lebte seinerzeit frei in Kanada, was zur
naheliegenden Frage führte, ob die öffentliche Sicherheit
durch ihn gefährdet werde. Der Fall geriet in die
Schlagzeilen und führte zu Vorwürfen der Opposition an die Regierung, untätig
zu sein. Die Sicherheitsbehörden untersuchten den Fall
offenbar deutlich gründlicher als Rukmini Callimachi und
kamen zum Ergebnis, seine Aussagen seien frei erfunden. Sie
verhafteten Huzaifa,
dessen richtiger Name Shehroze Chaudhry ist, am 25.09.2020
wegen "hoax-terrorist activity" (ein Straftatbestand, der
eigentlich Panikerzeugung durch falschen Bombenalarm
betrifft).
Die New York Times startete daraufhin eine "frische
Untersuchung" ("a fresh examination") und kam im Dezember
i.w. zur gleichen Einschätzung wie die kanadischen
Sicherheitsbehörden. Sie veröffentlichte am 18.12.2020 eine
ausführliche eigene Darstellung des Falls.
Danach waren die kanadischen Behörden schon seit
2016 auf Chaudhry, der in diversen sozialen Netzen mit
seinen angeblichen Taten prahlte, aufmerksam geworden und
hatten schon 2018 angebliche Beweisfotos als Fälschungen
erkannt, konnten seinerzeit aber auch nicht ausschließen,
daß seine Aussagen irgendeinen wahren Anteil enthielten.
Reaktionen
Die New York Times hat die Podcast-Folgen nicht
zurückgezogen bzw. gelöscht, sondern bei allen Folgen einen
Warnhinweis ergänzt, der auf wesentliche Fehler in den
Darstellungen hinweist.
Die New York Times bzw. Callimachi hatten mehrere
Journalismuspreise für den Podcast bekommen, darunter einen
sehr renommierten.
Die Preise wurden von den Stiftern widerrufen bzw. von der
New York Times freiwillig zurückgegeben.
Callimachi wurde, obwohl sie einen enormen
Reputationsschaden verursacht hat, nicht entlassen, sondern
mit einer anderen, nicht publik gemachten Aufgabe betraut.
Diese "Strafe" ist lächerlich im Vergleich dazu, aus welchen
Gründen in letzter Zeit Mitarbeiter der New York Times wegen
politisch unerwünschtem Verhalten gehen mußten bzw.
weggemobbt wurden.
Der Skandal erzeugte erhebliche Aufmerksamkeit und
ausführliche Berichte in anderen Zeitschriften bzw. Medien
in Nordamerika, zunächst Anfang Oktober 2020 nach der
Verhaftung von Chaudhry und dann noch einmal nach der
faktischen Zurücknahme des Podcasts Mitte Dezember. Man kann
von einem medialen Erdbeben und einem massiven Imageschaden
der New York Times reden.
Ursachen
Nach den Ursachen, wie es zu diesem Desaster kommen konnte,
hat New York Times selber gesucht; der Untersuchungbericht
Mazzetti (2020) ist
zwar sehr lang und enthält einige neue Details, er nennt
aber letztlich nicht wirklich die Verantwortlichen. Noch
nicht einmal Callimachi wird namentlich erwähnt. Der Bericht
zieht sich wiederholt darauf zurück, bei investigativem
Journalismus seien nie alle Zweifel ausräumbar. Auch ein
parallel erschiener Artikel, Tracy (2020), urteilt eher zurückhaltend.
Andere Berichte, sogar
einer in der New York
Times, stellen die Angelegenheit deutlich kritischer dar und
bescheinigen sowohl Callimachi persönlich wie auch den
internen Kontrollmechanismen gravierende, selbstverschuldete
Fehlleistungen. Es hatte schon im Vorfeld, bevor der Podcast
auf Sendung ging, vielfache Hinweise auf die fehlende
Glaubwürdigkeit des Hauptzeugen und andere Unstimmigkeiten
gegeben. Anstatt diesen Hinweisen nachzugehen, wurde
versucht, die Sensationsstory zu retten. Denn genau solche
Geschichten wollen die Leser lesen (Relotius läßt grüßen).
Es spielte auch keine Rolle, daß Callimachi schon früher
unsauber recherchiert und "Sensationen" aufgebauscht, um
nicht zu sagen erfunden hatte.
Callimachi wurde trotz ihrer Fehler von den Herausgebern und
den Besitzern protegiert, nicht zuletzt wahrscheinlich
deswegen, weil sie als Frau und als Flüchtling (aus Rumänien in den
1980er Jahren) gleich in zwei wichtigen Kategorien die
richtigen Personenmerkmale hatte und weil sie Sensationen
lieferte. Smith (2020)
sieht dahinter einen grundlegenden Wandel der New York Times
weg von sorgfältiger, aber dröger Berichterstattung hin zu
spannenden Stories.
Einordnung
Die New York Times ist eine Institution in den USA. Mit über
1000 Redakteuren und einer entsprechenden logistischen
Infrastruktur hat sie die mit Abstand größte Redaktion aller
Zeitungen in den USA. Sie genießt erhebliches Vertrauen,
zumal es in den USA praktisch keinen öffentlich-rechtlichen
Runfunk gibt, der Zeitschriften Konkurrenz machen kann.
Daher hatte der Caliphate-Podcast auch deutlichen Einfluß
darauf, daß der ISIS in der öffentlichen Meinung der USA als
sehr gefährlich eingeschätzt wurde. Umso schlimmer ist, daß
dieses Vertrauen aufgrund gravierender interner
Fehlleistungen enttäuscht wurde.
Callimachi wurde 2014 von der New York Times eingestellt,
also genau in dem Zeitraum, in dem laut Rothstein
(2020) der große Personalaustausch bei der New York
Times begann. In 2014 wurde auch der erste Afroamerikaner
Chefredakteur (Dean
Baquet).
Ein Jahr später, 2015, wurde Nikole Hannah-Jones bei der New York Times fest
angestellter Autor. Hannah-Jones verschaffte der New York
Times einen ähnlichen
Imageschaden wie Callimachi. Sie ist
Hauptverantwortlicher für das 1619
Project, das die Geschichte der USA neu schreiben
wollte: danach beruhte die Geschichte der USA durchgängig
von den frühesten Anfängen an auf Sklaverei. Dies wurde
schon 2019 bei der Veröffentlichung von zahlreichen seriösen
Geschichtsprofessoren als unhaltbare Geschichtsklitterei
heftig kritisiert. Die New York Times weigerte sich anfangs,
die Darstellungen zu korrigieren. Irgendwann Anfang 2020
änderte man dann aber doch zentrale Behauptungen ab, ohne
dies kenntlich zu machen oder mitzuteilen. Die heimlichen
Änderungen wurden erst im Sommer 2020 bemerkt und
entsprechend empört kommentiert. Der zwangsläufige Eindruck
war, daß die New York Times bewußt falsche - woke -
Darstellungen produziert hatte und erst davon abrückte, als
deren Falschheit aufgrund des massiven öffentlichen Protests
nicht mehr geleugnet werden konnte.
Die Hauptpersonen bei den Skandalen um das 1619 Project und
den Caliphate-Podcast haben auffällige Gemeinsamkeiten: es
sind Frauen, sie gehören als Farbige oder Migranten zu einer
"marginalisierten" identitären Gruppe, sie wurden
nach der "Wende" 2014/15 eingestellt, und sie erfreuen sich
extremen Wohlwollens seitens der Besitzer, werden also auch
bei skandalösen Fehlleistungen nicht gefeuert. Das dürfte
kein Zufall sein.
Quellen
- Rukmini Callimachi: A Train Journey From Communism to Freedom, Almost Ended in Hungary. New York Times, 06.09.2015. https://www.nytimes.com/2015/09/07/world/europe/a-train ... ry.html
- Sean Kilpatrick: Tories Press Liberals To Go After Canadian Who Told New York Times He Killed For ISIS. Huffington Post, 11.05.2018. https://www.huffingtonpost.ca/2018/05/11/tories-liberal ... 432879/
- Mark Mazzetti, Ian Austen, Graham Bowley, Malachy Browne: A Riveting ISIS Story, Told in a Times Podcast, Falls Apart. New York Times, 18.12.2020. https://www.nytimes.com/2020/12/18/world/middleeast/caliphate-chaudhry-hoax.html
- James North: `NY Times' tries but fails to clean up multiple failures by `Jihadism Terror' reporter, Rukmini Callimachi. mondoweiss.net, 18.12.2020. https://mondoweiss.net/2020/12/ny-times-tries-but-fails ... imachi/
- O Division RCMP Integrated National Security Enforcement Team charges a man with hoax in relation to terrorist activity. Royal Canadian Mounted Police, Toronto, Ontario, 25.09.2020. https://www.rcmp-grc.gc.ca/en/news/2020/o-division-rcmp ... elation
- Ben Smith: An Arrest in Canada Casts a Shadow on a New York Times Star, and The Times. New York Times, 11.10.2020. https://www.nytimes.com/2020/10/11/business/media/new-y ... te.html
- Bret Stephens: The 1619 Chronicles. New York Times, 09.10.2020. https://www.nytimes.com/2020/10/09/opinion/nyt-1619-project-criticisms.html
- Marc Tracy, Katie Robertson and Tiffany Hsu: New York Times Says `Caliphate' Podcast Fell Short of Standards. New York Times, 18.12.2020. https://www.nytimes.com/2020/12/18/business/media/new-y ... st.html
- Erik Wemple: The Caliphate retraction wont end the New York Times's woes. Washington Post, 20.12.2020. https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/12/20/cali ... s-woes/