Freitag, 26. März 2021

"Offene Transsexualität" und das Offenbarungsverbot


Seit einigen Tagen laufen diverse Berichte über die Ernennung von Rachel Levine zum stellvertretenden Staatssekretär für Gesundheit in den USA über die Ticker. Die Washington Post titelt euphorisch: "Rachel Levine, historic transgender nominee, confirmed as assistant health secretary" angesichts der historischen Tragweite des Vorgangs und berichtet:
The Senate on Wednesday voted 52 to 48 to confirm Rachel Levine as the nation's assistant secretary for health, making her the highest-ranking openly transgender official in U.S. history.
Nominiert wurde Levine schon im Januar vom derzeit weltweit mächtigsten Trans-Aktivisten, Joe Biden. Der Senat hat diese Nominierung jetzt bestätigt. Daß sich Prominente als transsexuell(1) outen, ist auch schon früher vereinzelt vorgekommen. Die Jubelrufe im Fall Levine deuten aber darauf hin, daß jetzt "offene Transsexualität" als ein neuer Hype bzw. eine neue Stufe der Emanzipation angestrebt wird, ähnlich wie offene Homosexualität. Diese scheinbare Analogie übersieht aber, daß "offene Transsexualität" das Konzept der Transsexualität grundsätzlich negiert und ein Widerspruch in sich ist. Man ahnt ferner Böses hinsichtlich der von den Grünen und von Trans-Aktivisten angestrebten Verschärfung des Offenbarungsverbots.


Hat sich die WaPo strafbar gemacht?
Gründe für das Offenbarungsverbot
Transidentität bzw. Transsexualität als (Rechts-) Anspruch an das Verhalten Dritter
"Offenbarungen" und Annahmen über deren Wahrscheinlichkeit
Die innere Unlogik offener Transsexualität
Fazit
Anmerkungen
Quellen

Hat sich die WaPo strafbar gemacht?
Zurück nach Deutschland, wo der Bundestagswahlkampf gerade anläuft und wo die Grünen in ihrem Wahlprogramm verkünden, "das überholte Transsexuellengesetz endlich aufheben" und durch ein neues Selbstbestimmungsgesetz ersetzen zu wollen. Darin soll "das Offenbarungsverbot konkretisiert" werden. Man darf das "konkretisieren" wohl so verstehen, daß die Merkmale des Vergehens, einen Transsexuellen als solchen zu offenbaren, ausgedehnt und/oder Strafen bei Zuwiderhandlung eingeführt werden sollen.

Gute Nachrichten für die WaPo: sie macht sich in Deutschland noch nicht strafbar, weil im Transsexuellengesetz (TSG) der § 5 Offenbarungsverbot i.w. nur verbietet, den oder die früheren Vornamen eines Transsexuellen zu offenbaren oder auch nur auszuforschen, mehr nicht(2). Den früheren Vornamen von Levine verrät uns die WaPo nicht, ob sie ihn kennt, weil sie ihn ausgeforscht oder "zufällig" erfahren hat, sei dahingestellt, jedenfalls ist sie aus dem Schneider.

Gründe für das Offenbarungsverbot
Grundsätzlich ist es eigentlich völlig uninteressant, den eventuellen früheren Vornamen einer Person zu kennen, und kein Schaden, davon zu wissen. Wenn z.B. jemand als "Adolf" getauft wurde und sich dann zu "Karl" umbenannt hat, würde man nur verständnisvoll nicken und zur Tagesordnung übergehen. Nicht zu reden von frei erfundenen Spitz- oder Rufnamen. Der ganze Sinn des Verbots, den früheren Vornamen von Transsexuellen zu verraten, besteht offensichtlich darin, die Tatsache der Transsexualität als solche nicht zu offenbaren. Wieso eigentlich?

Eine erste Begründung könnte darin liegen, das Transsexuelle von religiösen oder ideologischen Fanatikern bedroht werden, bis hin zur Ermordung. Zumindest verbreiten Trans-Aktivisten dieses Bedrohungszenario, und dieses Narrativ dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, die Transsexuellen an die Spitze der Opferstatuspyramide zu befördern. Wenn dieses Argument stimmt, dann müßte man sich aus Gründen der Gleichbehandlung viel eher um Schwule kümmern, die noch mehr von dieser Bedrohung betroffen sind und die eine viel größere Gruppe sind. Homosexuelle haben indes genau das Gegenteil von Geheimhaltung ihrer Sexualität angestrebt und längst durchgesetzt: Schwule Minister, lesbische Parteivorsitzende oder homosexuelle Präsidenten von Bundesländern sind längst normal, der Sachverhalt als solcher interessiert niemanden mehr (ausgenommen die erwähnten Fanatiker).

Das Offenbarungsverbot speziell bei Transsexuellen mit einem Bedrohungszenario zu begründen, ist also nicht plausibel. Wesentlich naheliegender ist die Begründung, daß eine Offenbarung der Transsexualität den Kern dessen, was Transsexualität ausmacht, negiert. Dies führt zur Frage, was Transsexualität überhaupt ist.

Transidentität bzw. Transsexualität als (Rechts-) Anspruch an das Verhalten Dritter
Auch wenn sich sogar Experten nicht ganz einig sind, was Transidentität bzw. Transsexualität genau ist, kann man als Minimalkonsens festhalten, daß man sein biologisches Geschlecht - bis hin zur Suizidandrohung - ablehnt und sich selber als das andere biologische Geschlecht empfindet, ferner den Anspruch an Dritte stellt, als das andere Geschlecht wahrgenommen und behandelt zu werden. Genau dieser Anspruch ist z.B. in einigen Ländern ein Rechtsanspruch mit empfindlichen Strafandrohungen, und genau das kommt gerade auch auf uns zu.

An dieser Stelle kommt wieder Rachel Levine ist Spiel: Bei Levine reicht ein Blick ins Gesicht bzw. auf die Pressefotos, um das tatsächliche biologische Geschlecht zu erkennen: das ist ein klassisches Männergesicht. Levine ist ein typisches Beispiel für Fälle, so man nur Sekunden braucht bzw. minimalen Aufwand treiben muß, den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu erkennen. Ein "Offenbarungsverbot" ist hier sinnlos, weil die Vortäuschung des anderen Geschlechts sowieso nicht klappt.

Die Betrachter werden hier in die gleiche schizophrene Situation gezwungen wie das Kind in "Des Kaisers neue Kleider" (oder wie die systematischen Zerstörung des Realitätswahrnehmung in "1984"). Das Offenbarungsverbot und verwandte Forderungen von Trans-Aktivisten erweisen sich hier als Eingriff in elementare Freiheitsrechte, die Realität objektiv wahrzunehmen und seine Meinung zu äußern, sowie als Zwang, bewußt die Unwahrheit zu sagen.

Wenn man die Ursachen für diese absurde schizophrene Situation verstehen will, muß man - wie so oft - sich einige Begriffsverschiebungen und implizite Annahmen klar machen.

"Offenbarungen" und Annahmen über deren Wahrscheinlichkeit
Der Begriff Offenbarung bedeutet außerhalb religiöser Kontexte, (a) etwas bisher Unbekanntes über sich selbst seiner Umwelt zu verraten oder (b) selber durch eigene Fähigkeit zu einer wichtigen Einsicht und Erkenntnis zu kommen. Beim "Offenbarung"sverbot hat der Begriff stattdessen in erster Linie eine ganz andere Bedeutung, nämlich i.w. ein Geheimnisverrat: der Offenbarende (Person X) verrät einem Dritten (Person Z) ein Geheimnis des dadurch Offenbarten bzw. "Enttarnten" (transsexuelle Person Y) gegen deren Willen.

Große Teile der Debatte um Transsexualität und speziell um das Offenbarungsverbot drehen sich im Kern um die Frage, wie perfekt Außenstehenden dauerhaft der Eindruck des neuen Geschlechts vermittelt werden kann, also wie häufig das Geheimnis aufgedeckt wird, und wie groß die Anteile der Aufdeckungen sind, die auf eigene Erkenntnisse (Offenbarungen vom Typ (b)) bzw. Geheimnisverrat (Offenbarungen vom Typ (c)) zurückzuführen sind.

Das Offenbarungsverbot im TSG und viele Debattenbeiträge von Trans-Aktivisten gehen offenbar von der Annahme aus, ein Transsexueller könnte das gewünschte andere biologische Geschlecht dauerhaft perfekt vortäuschen und das Geheimnis würde fast nur durch Verrat aufgedeckt, während die Aufdeckung des Geheimnisses durch eigene Erkenntnisse sehr selten ist und keine Rolle spielt. Nur unter diesen Annahmen ist das Auskundschaften und Verraten der Transsexualität die Hauptursache für die erhebliche Schädigung eines Transsexuellen und als böswillig zu bewerten. Nur dann ist ein Verbot bzw. eine Bestrafung moralisch gerechtfertigt.

Diese Annahmen sind indes sehr optimistisch. Eine perfekte Vortäuschung des anderen biologischen Geschlechts ist in Wirklichkeit schwierig bis unmöglich. Der Grad der Unmöglichkeit hängt vom Sinn bzw. Kontext ab, warum man überhaupt Geschlechter unterscheidet. Wenn es um Kinder bzw. Fortpflanzung oder um medizinische Untersuchungen geht, ist die Geheimhaltung definitiv unmöglich. Bei direkten sexuellen Kontakten oder im Leistungssport ist sie fast unmöglich(3). Selbst im allgemeinen sozialen Umgang, wo man mehr Distanz wahrt und wo es eigentlich gar keinen funktionalen Grund gibt, Geschlechter zu unterscheiden, muß man einen extremen Aufwand treiben, um nicht durchschaut zu werden. Bei ungünstigen biologischen Voraussetzungen ist man auch hier chancenlos. Einen Eindruck von dem Aufwand und den Schwierigkeiten vermittelt Vincent (2006).

Ursache der Schwierigkeiten selbst in "harmlosen" Kontexten ist unsere angeborene Andro- bzw. Gynophilie, mit der wiederum eine angeborene ausgeprägte Fähigkeit einhergeht, männliche bzw. weibliche Phänotypen zu unterscheiden, also Menschen nach ihrem Phänotyp zu klassifizieren. Je nach Klassifizierung reagieren wir entweder mit sexueller Attraktion oder mit intrasexuellem Konkurrenzverhalten. Wir können andere nicht nur binär als potentiellen Fortpflanzungspartner oder intrasexuelle Konkurrenz klassifizieren, sondern die potentiellen Partner sogar hinsichtlich ihrer Eignung zur Fortpflanzung graduell bewerten. Wir finden sie dann mehr oder weniger "schön". Bei der Bewertung der Schönheit von Gesichtern und anderen Körperteilen kommt es auf kleinste Unterschiede in den Farben, Formen und Proportionen an. Wir sind extrem gut darin, diese Unterschiede zu erkennen und können unsere ausgeprägte Fähigkeit zur Klassifizierung und Schönheitsbeurteilung nicht einfach abschalten, das ist nämlich der Kern unserer Sexualität. Die Schönheitsbeurteilung ist sozusagen die meßtechnische Realisierung der sexuellen Attraktion.

Genau diese Abschaltung wird aber von Trans-Aktivisten durch Parolen wie "eine Transfrau ist eine Frau" verlangt, ebenso tendenziell durch das Offenbarungsverbot. Diese Forderung ist inhaltlich genau dasselbe wie die Forderung, Schwule zu "heilen", das ist ein massiver Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung. Kürzlich hat der Protest gegen diese Fremdbestimmung u.a. zur SuperStraight-Kampagne geführt(4).

Die innere Unlogik offener Transsexualität
Bei den vorstehenden Betrachtungen war der Fall "offener Transsexualität" nicht berücksichtigt. Das TSG macht dies auch nicht, d.h. die Verbote gelten grundsätzlich auch dann, wenn der Transsexuelle selber seine Transsexualität offenbart(5). Der Hauptgrund, Selbstoffenbarungen nicht zu berücksichtigen, dürfte in der Einschätzung liegen, daß diese extrem unwahrscheinlich sind.

Wenn es der Kern der Transidentität bzw. Transsexualität ist, sich selber bzw. Dritten die Illusion zu verschaffen, das andere, gewünschte Geschlecht zu sein, dann kann man nicht zugleich genau diese Illusion selber zerstören, indem man "offen transsexuell" ist. Levine z.B. ist ein biologischer Mann, der als "Frau" wahrgenommen werden will, uns aber zugleich mitteilt, daß er gar keine biologische Frau ist. Als Betrachter befindet man sich in einer völlig absurden Situation, zwei sich direkt widersprechende Aussagen aus der gleichen Quelle glauben zu sollen.

Als außenstehender Betrachter kann man dieses Paradox auf etwas unschöne Weise auflösen, indem man offen Transsexuellen die Fähigkeit zu logischem Denken abspricht. Alternativ kann man einen offen Transsexuellen als eine Art permanenten Travestiekünstler ansehen. Dann stellt sich aber die Frage, was mit dem vorgetäuschten Phänotyp noch ernsthaft ausgesagt werden soll, welche Ansprüche an das Verhalten anderer gestellt werden und ob überhaupt bzw. in welchen Kontexten hier noch von einem Geschlecht die Rede sein kann, das die funktionale Unterscheidung von Personen anhand das Geschlechts bezweckt.

Eine halbwegs in sich konsistente Auflösung des Paradox besteht darin, in bestimmten Kontexten "Transfrau" und "Transmann" als eigene Kategorien neben "Frau", "Mann"(6) und eventuell weiteren Kategorien anzusehen. Damit würde man letztlich die biologischen bzw. medizinischen Realitäten anerkennen. Dazu müßte man aber den bisherigen dogmatischen Anspruch "eine Transfrau ist eine Frau" (analog für Männer) aufgeben, was eine Kehrtwende um 180 Grad bedeuten würde.

Fazit
Festhalten kann man als Fazit, daß das Konzept "offene Transsexualität" zusätzliche Verwirrung stiftet und die ohnehin vorhandene Unklarheit, was Transsexualität überhaupt ist, weiter vergrößert.

Man darf gespannt sein, ob sich "offene Transsexualität" als Phänomen weiter ausbreiten und ob sich dessen die innere Unlogik im kommenden Selbstbestimmungsgesetz niederschlagen wird.

Anmerkungen

(1) Auf die unterschiedlichen Benutzungen der Bezeichnungen transident, transsexuell und transgender gehen wir hier nicht ein und benutzen i.f. vereinfachend nur die Bezeichnung transsexuell.

(2) Die WaPo (oder eine deutsche Zeitschrift, die den gleichen Text veröffentlicht) macht sich auch deshalb nicht strafbar, weil das TSG i.w. nur für Behörden gilt. Aus dem Text des Gesetzes ist dies nicht direkt ersichtlich. Die Staatsanwaltschaft Tübingen stellte im Einstellungsbescheid vom 29.07.2020 zum Aktenzeichen 14 Js 16672/20 fest (s. Usebach (2020)), (nur) staatliche Organe, wie Behörden und Gerichte seien Adressaten der Norm. In diesem Prozeß war der Tübinger OB Boris Palmer angeklagt worden, gegen § 5 Abs. 1 TSG verstoßen zu haben, weil er den früheren Vornamen eines anderen Mitglieds der Grünen benutzt hatte. § 5 Absatz (2) verpflichtet aber auch Privatpersonen (frühere Ehegatten, die Eltern, die Großeltern und die Abkömmlinge des Transsexuellen), bei bestimmten Rechtsgeschäften den neuen Vornamen anzugeben, den alten also nicht zu offenbaren.
Man kann jedenfalls davon ausgehen, daß die Grünen und die Transgender-Verbände die politische Absicht haben, den Geltungsbereich des Offenbarungsverbots deutlich auszuweiten und Verstöße dagegen zu einer strafbewehrten Ordnungswidrigkeit zu machen.

(3) Eine andere Person kann natürlich mit einem Transsexuellen freiwillig und in voller Kenntnis der Transsexualität erfüllende sexuelle Kontakte haben. Darum geht es hier nicht, sondern nur um die Frage, ob diese Kenntnis bei einer Person, die dazu nicht willens ist, vermieden werden kann.

(4) Die SuperStraight-Kampagne erregt seit Anfang März unter dem Hashtag #superstraight (ferner analog unter #supergay und #superlesbian) einige Aufmerksamkeit. Sie lehnt den Anspruch von Trans-Aktivisten ab, bei der Partnersuche Transsexuelle unterschiedslos wie Nicht-Transsexuelle in Betracht zu ziehen. Stattdessen zieht man nur Nicht-Transsexuelle als Partner in Betracht. Die feministische bzw. trans-aktivistische Presse verurteilte die Bewegung sofort als transphob. Dieser Konflikt ist aber nur ein Symptom einer tiefgehenden Spaltung der feministischen Bewegung über der Frage, was die Begriffe "männlich" und "weiblich" bedeuten und wer den höchsten Opferstatus hat. Der Konflikt wurde schon bei den Affären um J.K. Rowling sichtbar und ist ein eigenes Thema.

(5) Man kann allenfalls argumentieren, daß eine Selbstoffenbarung ein konkludentes Handeln darstellt, durch das eine allgemeine Erlaubnis erteilt wird, die Transsexualität oder frühere Vornamen Dritten zu verraten. Solche Interpretationen sind aber unsicher und schaffen Rechtsunsicherheit.

(6) Die SuperStraight-Aktivisten haben prompt die Bezeichnungen supermale bzw. superfemale für biologische Männer bzw. Frauen eingeführt.

Quellen